Die Jahre (Annie Ernaux)Die Jahre ist eine Autobiografie der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux. Das 2008 in Frankreich unter dem Titel Les années und 2017 auf Deutsch erschienene Werk[1] beschreibt die Jahre von etwa 1941, ihrem ersten Lebensjahr, bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Wiederkehrende Themen sind ihre körperliche Entwicklung und sexuellen Erlebnisse, Familie, Ehe und Scheidung, Studium, Beruf und Feminismus, ein Abriss der Politik und die Faszination des Konsums in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Frankreich. Mit Anfang zwanzig hatte sie zum ersten Mal die Idee eines Romanprojekts, dessen späte Realisierung die vorliegende Autobiografie ist. Diese verursachte wegen ihrer experimentellen Form der Lebensbeschreibung einer Frau als einer „unpersönlichen Autobiografie“[2] großes Aufsehen. ErzählstrategienDistanzierende SelbstbeobachtungAm auffälligsten ist der vollständige Verzicht auf das Personalpronomen „ich“, das gerade in einer Autobiografie die Handlungsträgerin namhaft machen würde. Am nächsten kommt Ernaux sich mit der noch identifizierenden Verwendung von „einem Mädchen“ oder „sie“, während sie die Hauptperson mehr und mehr mit dem pluralisierenden „wir“ und neutralisierenden „man“ in personale Unbestimmtheit zurückdrängt. Da mit diesem „wir“ ihre Familie oder Freunde oder Gleichgesinnte oder Frauen oder Franzosen usw. gemeint sein könnten, verdunkelt der Ich-Verzicht die Zuschreibung von Haltungen und politischen Ansichten, von Entscheidungen und Reifungsprozessen zur Hauptperson. Das narrative Basisprinzip verhüllt nicht nur das eigentliche Objekt des Interesses bis zur Unkenntlichkeit, sondern auch alle anderen vielleicht für ihre Entwicklung wichtigen Einflüsse aus ihrem Umkreis: Mehrfach erwähnt Ernaux dafür ihre lebenslange Schüchternheit, die sie auf ihre Herkunftsscham infolge ihres ärmlichen Elternhauses zurückführt; sie war sich sicher, „dass sie keine ´Persönlichkeit´ hat.“[3] Aber auch ihre Projektidee enthält schon früh „eine einzelne Existenz, die in der Bewegung einer ganzen Generation aufgeht“[4], was sie später als „unpersönliche Autobiografie“[5] bezeichnet. Biografische MikroperspektiveEine ergänzende Strategie ist der Verzicht auf Sinnstiftung. Ernaux hat als Kind und Jugendliche die anschaulichen, abenteuerlichen und teils heroischen Erzählungen der älteren Generation der Familie über Krieg und Nachkriegsaufschwung erlebt, die ihre Zuhörer in eine bestimmte Weltsicht hineinzogen und zur Nachahmung verführten.[6] Dagegen ist Ernaux´ Narration fast nur chronologisch, additiv und vermeidet kausale Beziehungen oder Erklärungen für Entwicklungen. Die an einzelnen Lebensstationen aufgenommenen, aber im Text nicht abgebildeten Fotos, „Standbilder der Erinnerung“[7], werden zunächst im Hinblick auf das unmittelbar Sichtbare beschrieben und dann punktuell biografisch kontextualisiert; und zur Vermeidung einer bevormundenden Sinnstiftung fügt sie immer wieder demonstrativ ihre Erinnerungen ohne ordnende Interpunktion aneinander. Topoi des UnpolitischenDiese biographische Mikroperspektive zeigt sich z. B. in den Topoi des Politischen. Obgleich sie sich schon früh nicht für Politik interessiert[8], wird sie dennoch Mitglied der französischen Sozialistischen Partei.[9] Statt aber über Diskussionen, Kräfteverhältnisse und Entscheidungen zur Entkolonialisierung, über Nationalismus, Rassismus und westliche Arroganz zu berichten, werden fast nur knappe Fakten und Stimmungen aus der Welt eines Wir-Subjekts referiert; so wird auch hier nicht immer deutlich, welche Überzeugungen sie persönlich teilt. In dieser Distanz entstehen die Topoi der Plötzlichkeit politischer Entwicklungen[10], der Irrelevanz der Politik für den Alltag[11] und der allgemeinen schnellen Ermüdung bei politischen Themen[12] – aber diese Topoi könnten auch Figuren einer die Ansichten der Person kaschierenden Ironie sein[13]. Dagegen sind der anschwellende Konsum der Nachkriegszeit und die Werbung ein immer wieder ausführlich beschriebenes Faszinosum: „Die Produkte tauchten auf wie im Märchen.“[14] „Der Konsum löste die Ideale von 1968 ab“[15] und wird zur Basis einer Fortschrittsgewissheit, die sich schließlich auf den eigenen Körper[16] konzentriert. Biografie gegen das VergessenIn dieser Autobiografie ohne Handlungsträgerin werden die Ereignisse als Widerfahrnisse erzählt, die zwar chronologisch in einen Lebensabschnitt passen, aber sich von der Hauptperson meist unbeeinflusst und für sie unvorhersehbar ereignen. Für diese Technik der Dokumentation[17] des Disparaten findet Ernaux die Begriffe des „Panoramas“ und der „Inventuren“, der mehrfach verwendeten Listen von Ereignisschlagzeilen und Gegenständen.[18] Diese Art der Darstellung ist für sie sowohl ein Experiment der Anordnung von Erinnerungen[19] als auch ein Festhalten gegen das schon in der Widmung angesprochene, absehbare Schicksal des Vergessens und Vergessen-Werdens[20]. Ernaux wollte einen „totalen Roman“ schreiben, der damit enden sollte, „dass sie sich von Menschen und Dingen lossagt, bis nichts mehr übrig wäre.“[21] Daher beobachtet sie ihr „Double“[22], die „unterschiedlichen ´Ichs´“[23], aus der Entfernung, wie eine Passantin des eigenen Lebens in einem Strom entpersönlichter Einflüsse und Ereignisse – und schreibt damit eine faszinierende Kulturgeschichte[24]. Es bleibt abzuwarten, ob diese radikale formale und inhaltliche Erneuerung des Sujets der Autobiografie Schule machen wird. RezeptionAnnie Ernaux gilt als „eine der prägendsten Stimmen der Französischen Gegenwartsliteratur“.[25] Sie wird im universitären Umfeld positiv rezipiert und ihr Werk ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten.[26][27] In der Literaturkritik wird ihr Werk vorwiegend positiv rezipiert, von einzelnen Stimmen hingegen als „Zurschaustellen des Elends“ oder „banale und unglaubliche Anmassung“ beurteilt. Das Literarische Quartett von der Frankfurter Buchmesse hatte u. a. Annie Ernaux’ Werk Die Jahre zum Thema. Volker Weidermann, Christine Westermann und der Gast Johannes Willms sprachen sich für das Buch aus, Thea Dorn dagegen. Willms, der den Text vorstellte, nannte ihn eine „Soziografie“, eine Emanzipationsgeschichte als Frau und als Mädchen aus der Provinz, das in Paris eine Ausbildung als Lehrerin absolviert. Er empfahl die „spannende Lektüre“. Christine Westermann bezog den Text auf ihre eigene Kindheit und Jugend und bezeichnete ihn als Zeitreise in ihr eigenes Leben. Für Volker Weidermann ist Die Jahre bis 1989 ein „Aufbruchsbuch“, das ihn nach anfänglicher Irritation gepackt habe. Thea Dorn wandte sich in der Diskussion deutlich gegen die Verwendung des „Man“ statt des „Ich“ durch Ernaux. Das „quasi soziologische“ statt literarische Buch sei politisch, links und poststrukturell. Sie monierte, ein Mädchen aus kleinen Verhältnissen in der Provinz dürfe nach Ernaux keine Subjektivität haben. Im Südwestfunk analysierte Michael Kuhlmann die Sprache der Autorin und wies auf die Leistung der Übersetzerin hin, durch die das Buch lesenswert ist.[28] Ein Interview von Beate Tröger mit Sonja Finck zu den Anforderungen an diese Übersetzung erschien in der Wochenzeitung Der Freitag.[29] Die Wiener Zeitung nennt die deutsche Fassung als Übersetzung beeindruckend.[30] Laut Magnus Klaue gelingt Ernaux in Die Jahre, was Eribon in Rückkehr nach Reims nur versprochen habe: „die glückliche Allianz von Autobiographie und Historiographie.“[31] Christoph Vormweg zufolge handelt es sich um eine „provozierende Aufforderung zur Selbstbesinnung.“ Er zitiert Ernaux’ Intention, „etwas von der Zeit (zu) retten, in der man nie wieder sein wird.“[32] Michael Kuhlmann lobt die deutsche Übersetzung:
– SWR2 Manuskript: "Lesenswert. Kritik." 13. November 2017 Ruth Fühner vom Hessischen Rundfunk fasst zusammen:
– hr-2 Kultur, 2017 Louise Voigt, die Produzentin des Hörspiels, nennt als ihren Grund für die Produktion dieser preisgekrönten Arbeit:
– Louise Voigt: [33] Ausgaben
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