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Hans Harmsen

Hans Harmsen (* 5. Mai 1899 in Charlottenburg; † 5. Juli 1989 in Bendestorf) war ein deutscher Sozialhygieniker und Bevölkerungswissenschaftler. Bis Ende des Zweiten Weltkrieges betrieb er Eugenik im Dienste der nationalsozialistischen Politik. Nach 1945 wurde er Professor an der Universität Hamburg. Er war Mitgründer, Präsident und schließlich Ehrenpräsident von Pro Familia.

Werdegang

Harmsen besuchte die Oberrealschule in Berlin-Zehlendorf, meldete sich aber während des Ersten Weltkriegs noch vor seinem Abschluss freiwillig zum Militär, wo er 1917 eine schwere Verwundung erlitt. Von 1919 bis 1925 studierte er Medizin an den Universitäten Berlin, Marburg und München. Seine Vorprüfung absolvierte er 1921, seine Abschlussprüfung im Oktober 1923, im November 1924 erhielt er seine Approbation und im gleichen Jahr wurde er promoviert. Harmsen zählte zum völkischen Flügel der Wandervogelbewegung. Er gehörte ab 1919 dem Jungdeutschen Bund an, gab ab 1925 das Bundesblatt Jungdeutsche Stimmen heraus und amtierte ab 1920 als Stellvertreter des Bundesleiters Frank Glatzel.[1]

Nach seiner Promotion war Hans Harmsen kurz als Arzt tätig und arbeitete dann mit einem Stipendium (Resident Scholarship) der Rockefeller-Stiftung am Hygienischen Institut Berlin. Nach dessen Auslaufen ging er an die Philipps-Universität Marburg, wo er 1927 im Fach Nationalökonomie promoviert wurde. Anschließend wurde er Leiter des Referats für Gesundheitsfürsorge im Centralausschuss für Innere Mission sowie Geschäftsführer des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes. Ab 1931 war Harmsen außerdem Dozent am Berliner Institut für Sozialethik. 1928 heiratete er in Potsdam Elisabeth Charlotte Agnes Hedwig von Haeften (1903–1980), Schwester der beiden Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 Werner von Haeften und Hans Bernd von Haeften. 1931 wurde die Tochter Ursula Kadereit geboren.

Zu seinen medizinischen Lehrern hatte der sozialdemokratische Eugeniker Alfred Grotjahn gehört, von dem sich Harmsen aber bereits früh durch rassenhygienische Argumentationen unterschied. Dies geht auch aus einer Stellungnahme auf der evangelischen Fachkonferenz für Eugenik am 18. Mai 1931 hervor: „Dem Staat geben wir das Recht, Menschenleben zu vernichten – Verbrecher und im Kriege. Weshalb verwehren wir ihm das Recht zur Vernichtung der lästigen Existenzen?“[2] Harmsen war kein Mitglied der NSDAP, hatte aber verschiedene Ämter inne, wie ab 1937 die Position als leitender Arzt der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege.[3] Als Leiter der „Fachkonferenz für Eugenik“ war er an den Beratungen über das 1934 verabschiedete Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses beteiligt. Bis 1942 war er zusätzlich Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung. 1939 habilitierte sich Harmsen an der Universität Berlin mit dem Thema Möglichkeiten und Grenzen der Eugenik. Er gehörte zu den führenden deutschen „Rassenhygienikern“,[4] war aber laut Schleiermacher nicht bereit, bis zur „Euthanasie“ zu gehen, er habe „eugenisch indizierten Schwangerschaftsabbruch“ ebenso abgelehnt wie Krankenmord.[5] Dagegen akzeptierte er den rassistisch bedingten Antisemitismus, in dem er keinen Widerspruch zum Christentum sah.

1942 wurde er als beratender Hygieniker zur Wehrmacht eingezogen und war in Nordafrika, auf dem Balkan sowie bei einer Panzerdivision an der Ostfront tätig. Da er aber kein Mitglied der NSDAP war, betrafen ihn die Maßnahmen zur Entnazifizierung nach Ende des Zweiten Weltkriegs kaum und er konnte seine Karriere problemlos fortsetzen. Durch die britische Besatzungsmacht wurde er beauftragt, eine „Akademie für Staatsmedizin“ zu gründen. Diese wurde Bestandteil des Hygiene-Instituts in Hamburg, dessen Leitung Harmsen zum 1. Juli 1946 als Nachfolger von Horst Habs übernahm. Gleichzeitig wurde er Professor für Allgemeine und soziale Hygiene an der Universität Hamburg. 1952 wurde Hans Harmsen Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft und 1953 Präsident der Deutschen Akademie für Bevölkerungswissenschaft. Diese Vereinigungen dienten, so der Wissenschaftsjournalist Ludger Weß, „als Auffangbecken und Netzwerk der führenden Köpfe der NS-Rassen- und Bevölkerungsbiologie“.[6]

Harmsen sammelte unter anderem eugenisch argumentierende Wissenschaftler um sich (Karl Valentin Müller, Hermann Muckermann, Hans W. Jürgens, Hermann Arnold und andere). Harmsen versuchte sich international zu positionieren, gemeinsam mit Martin Kornrumpf etwa im Rahmen der deutschen Sektion der internationalen Forschungsgesellschaft für das Weltflüchtlingsproblem (AER/AWR).[7] Der Historiker Alexander Pinwinkler urteilte: „Von den damaligen westdeutschen Demografen verfügte Harmsen unzweifelhaft über die besten Verbindungen ins westliche Ausland. Unter seinen Kollegen galt er vor allem als Wissenschaftsorganisator, eine Zuschreibung, die ihm retrospektiv zu Lasten seiner fachlichen Qualifikationen angekreidet werden konnte.“[8]

1953 wurde Harmsen ordentliches Mitglied der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL), allerdings ohne in den folgenden Jahren dort noch wesentlich Wirkung zu entfalten.[9]

Bis zum 30. April 1969 war Harmsen Direktor des Hygiene-Instituts. Seine Arbeitsschwerpunkte waren die Sozial-, Arbeits- und Städtehygiene, außerdem die Sexualhygiene. In der Sowjetischen Besatzungszone wurde seine Schrift Die Bevölkerungspolitik des italienischen Faschismus (Bevölkerungspolitischer Ausschuß, Berlin 1929) auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt.[10]

Hans Harmsen hat für den Antiziganismus in Deutschland eine größere Bedeutung: Für den Historiker Sebastian Lotto-Kusche (Flensburg) war Hans Harmsen „zentrale Schlüsselfigur beim Aufbau des Netzwerks Hermann Arnolds.“[11]

1952 war Harmsen Mitbegründer von Pro Familia, wurde deren erster Präsident und anschließend Ehrenpräsident. Dieses Amt musste er jedoch 1984 niederlegen, nachdem seine Veröffentlichungen aus der Zeit vor 1945 bekannt wurden und kritische Reaktionen in der Öffentlichkeit hervorriefen. Ebenso gehörte er dem wissenschaftlichen Beirat des Familienministeriums an. Seit 1958 war er zusätzlich Präsident der Ernst Barlach Gesellschaft Hamburg und sammelte Kunst. Er wurde 1967 mit der Ernst-von-Bergmann-Plakette der Deutschen Bundesärztekammer, 1967 durch den Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren mit der Hufeland-Medaille und 1970 mit dem Großen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.[12]

Harmsen gab die Zeitschrift Forum Umwelthygiene (zunächst Städtehygiene und Umwelthygiene) sowie die Schriftenreihe Zur Entwicklung und Organisation des Gesundheitswesens in der DDR unter Mitberücksichtigung der UdSSR und ostdeutschen Volksdemokratien (1955–1978/1979) heraus.

Weitere Mitgliedschaften

Schriften

  • Arbeitsbericht des Vereins Mütterhilfe e. V. für das Jahr 1935. Berlin 1936.
  • als Herausgeber mit Franz Lohse: Bevölkerungsfragen. Bericht des Internationalen Kongresses für Bevölkerungswissenschaft. Berlin 26. August – 1. September 1935. München 1936.
  • als Herausgeber: Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses: eine Handreichung für die Schulung der in unseren Anstalten und in der Wohlfahrtspflege wirkenden Kräfte. Verlag Dienst am Leben, Berlin-Grunewald 1935.
  • Zur ungeklärten Lage der ledigen Mutter und des unehelichen Kindes. In: Archiv für Bevölkerungswissenschaft 10, 1940, S. 145–153.
  • Ausbildungsmöglichkeiten auf dem Gebiet der Demographie. In: Hans Freyer, Helmut Klages und Hans Georg Rasch (Hrsg.): Actes du XVIIIe Congrès International de Sociologie. Nuremberg, 10–17 septembre 1958. Band 4, Anton Hain, Meisenheim am Glan 1961, S. 131–139.

Literatur

  • Sabine Schleiermacher: Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuß für die Innere Medizin. Matthiesen, Husum 1998, ISBN 3-7868-4085-7.
  • Sabine Schleiermacher: „Um die Sicherung des Lebensraums der Familie“. Bevölkerungspolitische Konzepte Hans Harmsens in Weimarer Republik und Nationalsozialismus. In: Rainer Mackensen (Hrsg.): Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich“. Leske + Budrich, Opladen 2004, ISBN 3-8100-3861-X, S. 141–150.
  • Peter Schneck: Sozialhygiene und Rassenhygiene in Berlin: Die Schüler Alfred Grotjahns und ihr Schicksal unter dem NS-Regime. In: Wolfram Fischer (Hrsg.): Exodus von Wissenschaften aus Berlin: Fragestellungen – Ergebnisse – Desiderate; Entwicklungen vor und nach 1933. Walter de Gruyter, Berlin/New York 1994, ISBN 3-11-013945-6, S. 494–509.
  • Lemma Harmsen, Hans. In: ARL (Hrsg.): 50 Jahre ARL in Fakten. ARL, Hannover 1996, S. 164f., ISBN 3-888 38-514-8.
  • Rainer Bookhagen: Die evangelische Kinderpflege und die Innere Mission in der Zeit des Nationalsozialismus, Mobilmachung der Gemeinden. Band 1: 1933 bis 1937. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998, ISBN 978-3-525-55729-7, S. 558–559 (online).
  • Peter Reinicke: Harmsen, Hans. In: Hugo Maier (Hrsg.): Who is who der Sozialen Arbeit. Lambertus, Freiburg 1998, ISBN 3-7841-1036-3, S. 228 f.
  • Atina Grossmann: Reforming sex. The German movement for birth control and abortion reform, 1920–1950. Oxford University Press, New York 1995, ISBN 0-19-505672-8.
  • Romy Steinmeier: „Hamburg hatte aber auch seine guten Seiten.“ Rudolf Otto Neumann und das Hygienische Institut Hamburg (= Schriftenreihe des Instituts für Hygiene und Umwelt, Hamburg. Band 3). Edition Temmen, Hamburg 2005, ISBN 3-86108-083-4, S. 205–207.
  • Sonja Schnitzler: Fallbeispiel für rekursive Kopplung von Wissenschaft und Politik: Das „Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik“ (1934–1944). In: Rainer Mackensen, Jürgen Reulecke, Josef Ehmer (Hrsg.): Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts „Bevölkerung“ vor, im und nach dem „Dritten Reich“. Zur Geschichte der deutschen Bevölkerungswissenschaft. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-531-16152-5, S. 321–344 und generell viele Hinweise auf Hans Harmsen in: Sonja Schnitzler: Soziologie im Nationalsozialismus zwischen Wissenschaft und Politik. Elisabeth Pfeil und das „Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik“. Springer, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-531-18611-5.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Sabine Schleiermacher: „Um die Sicherung des Lebensraums der Familie“. Bevölkerungspolitische Konzepte Hans Harmsens in Weimarer Republik und Nationalsozialismus. In: Rainer Mackensen (Hrsg.): Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im „Dritten Reich“. Leske+Budrich, Opladen 2004, S. 141–150 (hier: S. 142).
  2. Zitat bei Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-596-16048-8, S. 227.
  3. Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, S. 227.
  4. Romy Steinmeier: „Hamburg hatte aber auch seine guten Seiten.“ Rudolf Otto Neumann und das Hygienische Institut Hamburg (= Schriftenreihe des Instituts für Hygiene und Umwelt, Hamburg. Band 3). Edition Temmen, Hamburg 2005, ISBN 3-86108-083-4, S. 205–207.
  5. Sabine Schleiermacher: Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene; S. 251 ff.
  6. Zitiert nach Sontheimer, siehe Weblinks.
  7. Nach dem stark umstrittenen Theodor Veiter übernahm Hans Harmsen wiederholt Funktionen innerhalb von AER/AWR, darunter die Vizepräsidentschaft und die Präsidentschaft der deutschen Sektion. Harmsen soll auch Ehrenpräsident der AWR gewesen sein. Vgl. Theodor Veiter: Geschichte der Flüchtlingsforschung. 40 Jahre AER/AWR – Vaduz. Unter Mitarbeit von Edith Wimmer mit Erinnerungen des Verfassers (= Abhandlungen zu Flüchtlingsfragen. Band 21). Braumüller, Wien 1991.
  8. Alexander Pinwinkler: „Bevölkerungsgeschichte“ in der „Deutschen Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft“ (1952 bis ca. 1970). In: Josef Ehmer, Ursula Ferdinand, Jürgen Reulecke (Hrsg.): Herausforderung Bevölkerung. Zu Entwicklungen des modernen Denkens über die Bevölkerung vor, im und nach dem „Dritten Reich“. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2007, S. 283–294 (hier: S. 284 f.).
  9. Vgl. Oliver Werner: Wissenschaft „in jedem Gewand“? Von der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung" zur „Akademie für Raumforschung und Landesplanung“ 1935 bis 1955. Wallstein, Göttingen 2022.
  10. http://www.polunbi.de/bibliothek/1948-nslit-h.html
  11. Sebastian Lotto-Kusche: Der Völkermord an den Sinti und Roma und die Bundesrepublik. Der lange Weg zur Anerkennung 1949–1990 (= Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte. Band 125). de Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2022, S. 109–117; 159–162; 192 (hier: S. 109).
  12. Hintergründe über Präsident Hans Harmsen auf der Website von ProFamilia (PDF; 250 kB).
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