Hans Mommsen wurde als Sohn des Historikers und Universitätsprofessors Wilhelm Mommsen (1892–1966) und dessen Frau Marie Therese, geb. Iken (1894–1974), in Marburg an der Lahn geboren. Seine Mutter entstammte einer Bremer Bankiersfamilie, sein Vater der Gelehrtenfamilie Mommsen.[2] Hans Mommsens Urgroßvater war der Althistoriker und erste deutsche Literaturnobelpreisträger (1902; für das Standardwerk Römische Geschichte) Theodor Mommsen (1817–1903), sein Großvater der Bankdirektor und freisinnige Politiker Karl Mommsen (1861–1922). Auch sein Zwillingsbruder Wolfgang J. Mommsen (1930–2004) und sein älterer Bruder Karl Mommsen-Straub (1923–1976) waren Historiker.[3]
Nach dem Abitur am Städtischen Realgymnasium für Jungen in Marburg im Februar 1951 studierte Mommsen Germanistik, Geschichte, Philosophie und Politik an der Philipps-Universität Marburg und an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Im Februar 1956 legte er in Marburg die wissenschaftliche Prüfung für das höhere Lehramt ab. Anschließend ging er nach Tübingen zurück und wurde dort im Dezember 1960 mit einer von Hans Rothfels betreuten Arbeit über die Geschichte der internationalen Integration in der österreichischen Sozialdemokratie 1867–1907promoviert. Anschließend war er kurze Zeit als Assistent von Rothfels tätig. Von 1960 bis 1963 arbeitete er am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München als Referent. Anschließend war er Assistent an der Universität Heidelberg bei Werner Conze, bei dem er sich 1967 mit der Arbeit Beamtentum im Dritten Reichhabilitierte.
An der neu gegründeten Ruhr-Universität Bochum hatte Mommsen von 1968 bis zu seiner Emeritierung Anfang 1996 einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte inne. Hinzu kamen Aufenthalte als Gastforscher in Princeton, Harvard, Berkeley, Jerusalem und Washington, D.C. Von 1977 bis 1985 war er Direktor des von ihm mitgegründeten Instituts zur Geschichte der Arbeiterbewegung.[4]
Beim Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) trat Mommsen als Redner zu den Festveranstaltungen zum dreißigjährigen (1993) und fünfzigjährigen (2013; Thema: Hitlers Stellung im NS-Herrschaftssystem und der Mythos der „Volksgemeinschaft“) Jubiläum auf.[5]
Mommsen war mit der Politikwissenschaftlerin Margareta Mommsen verheiratet und lebte mit ihr in Feldafing. Mommsen starb 2015 an seinem 85. Geburtstag in Tutzing am Starnberger See.
Werk
Hauptarbeitsgebiet Mommsens war die deutsche Geschichte zwischen 1918 und 1945. Hier legte er unter anderem mit Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933 eine Überblicksdarstellung über die Weimarer Republik vor. Zur Geschichte des Nationalsozialismus arbeitete Mommsen über den Reichstagsbrand[6] und den Holocaust.[7]
Die Forschungen Mommsens zum Reichstagsbrand anhand des Aktenbestandes und seine daraus abschließende Schlussfolgerung, es habe sich bei dem Brandstifter sicher um einen Einzeltäter, und zwar den späterhin verurteilten Marinus van der Lubbe gehandelt, wird zwar nach wie vor debattiert, eine schlüssige Widerlegung konnte mangels gegenteiliger Belege bis heute nicht vorgelegt werden.
Mommsen verschob durch seine Veröffentlichungen die Perspektive historischer Forschung weg von einer alles überlagernden Person Adolf Hitlers hin zu Strukturen und Apparaten des NS-Regimes, der Strukturgeschichte. Diese später als funktionalistische Schule bezeichnete Richtung der NS-Forschung fragt auch nach der Verantwortung des Einzelnen in der NS-Diktatur, während zahlreiche Historiker (lediglich) die Rolle Hitlers und einer Handvoll Vasallen als Triebkraft für alle politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im NS-Staat annehmen (und aus ihrer Sicht „intentionalistisch“ argumentieren) und damit die Schuld auf wenige Verantwortliche konzentrieren. Daran begann eine heftige Auseinandersetzung zwischen dem Lager der „Funktionalisten“ (u. a. eben Hans Mommsen) und dem der „Intentionalisten“. In diesem Zusammenhang führte Mommsen den Begriff der „kumulativen Radikalisierung“ für die nationalsozialistische Vernichtungspolitik ein.[8] Der Streit beider Schulen seit Beginn der 1980er Jahre bestimmte für beinahe zwei Jahrzehnte die Debatten in der deutschen Geschichtswissenschaft.
Unter der Überschrift Grass’ Spießrutenlauf[9] wiederholte Mommsen im August 2006 seine seit den 1980er Jahren vertretene These, die deutsche Öffentlichkeit betreibe verdeckte Apologetik, indem sie indirekt die Schuld auf die Repräsentanten des Nationalsozialismus und ihre Protagonisten projiziere. Er stellte die mangelnde Bereitschaft der Deutschen fest, ihre persönliche Verstrickung (bzw. der ihrer Vorfahren) in die NS-Verbrechen einzugestehen. Um öffentlichen Diffamierungen auszuweichen, hätten Prominente wie Walter Jens oder Martin Broszat ihre Mitgliedschaft in der NSDAP oder anderen NS-Organisationen verschwiegen. Die Empörung angesichts Grass’ späten Bekenntnisses zu seiner Mitgliedschaft als Jugendlicher in der Waffen-SS nennt Mommsen folglich „typisch wie verlogen“.[10]
Ein Schriftenverzeichnis erschien in Christian Jansen, Lutz Niethammer, Bernd Weisbrod (Hrsg.): Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995. Akademie Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-05-002835-1, S. 729–749; eine aktualisierte und wesentlich erweiterte Fassung in: Hans Mommsen: Die „rote Kapelle“ und der deutsche Widerstand gegen Hitler (= SBR-Schriften. Band 33). Klartext-Verlag, Essen 2011, ISBN 978-3-8375-0616-7, S. 31–68.
Monographien
Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat. 2 Bde. Europaverlag, Wien 1963 (Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1960 u.d.T.: Geschichte der internationalen Integration in der österreichischen Sozialdemokratie (1867–1907). Ein Beitrag zur Entwicklung der Nationalitätenfrage im alten Österreich).
Beamtentum im Dritten Reich. Mit ausgewählten Quellen zur nationalsozialistischen Beamtenpolitik (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Band 13). DVA, Stuttgart 1966.
Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933 (= Propyläen-Geschichte Deutschlands. Band 8). Propyläen Verlag, Berlin 1989, ISBN 3-549-05818-7.
Überarbeitete und erweiterte Fassung: Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar. Ullstein Verlag, Berlin 1998. Viele weitere Ausgaben.
Der Nationalsozialismus und die deutsche Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze. Reinbek 1991, ISBN 3-499-18857-0.
Widerstand und Politische Kultur in Deutschland und Österreich. Wien 1994, ISBN 3-85452-325-4.
mit Manfred Grieger: Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich. Econ, Düsseldorf 1996, ISBN 3-430-16785-X.
Aufstieg und Untergang der Republik von Weimar 1918–1933. Berlin 1998, ISBN 3-548-26508-1.
Der Mythos von der Modernität. Zur Entwicklung der Rüstungsindustrie im Dritten Reich. Essen 1999, ISBN 3-88474-646-4.
Von Weimar nach Auschwitz. Zur Geschichte Deutschlands in der Weltkriegsepoche. Ausgewählte Aufsätze. Stuttgart 1999, ISBN 3-421-05283-2.
Alternative zu Hitler. Studien zur Geschichte des deutschen Widerstandes. München 2000, ISBN 3-406-45913-7.
Auschwitz, 17. Juli 1942. Der Weg zur europäischen „Endlösung der Judenfrage“. dtv, München 2002, ISBN 3-423-30605-X.
Zur Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. Demokratie, Diktatur, Widerstand. DVA, München 2010, ISBN 978-3-421-04490-7.
Die „rote Kapelle“ und der deutsche Widerstand gegen Hitler. Klartext, Essen 2012, ISBN 978-3-8375-0616-7.
Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa. Wallstein, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8353-1395-8.
Herausgeberschaften
Sozialdemokratie zwischen Klassenbewegung und Volkspartei. Verhandlungen der Sektion „Geschichte der Arbeiterbewegung“ des Deutschen Historikertages in Regensburg, Oktober 1972. Frankfurt am Main 1974, ISBN 3-8072-4045-4.
mit Dietmar Petzina und Bernd Weisbrod: Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. 2 Bände, Königstein am Taunus 1977, ISBN 3-7610-7206-6.
mit Ulrich Borsdorf: Glück auf, Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Organisationen in Deutschland. Köln 1979.
mit Uwe Backes u. a.: Reichstagsbrand – Aufklärung einer politischen Legende. Piper, München 1986, ISBN 3-492-03027-0.
Arbeiterbewegung und industrieller Wandel. Studien zur gewerkschaftlichen Organisationsproblemen im Reich und an der Ruhr. Wuppertal 1980, ISBN 3-87294-150-X.
mit Susanne Willems: Herrschaftsalltag im Dritten Reich. Studien und Texte. Düsseldorf 1988, ISBN 3-491-33205-2.
mit Dušan Kováč, Jiří Malíř, Michaela Marek: Der Erste Weltkrieg und die Beziehungen zwischen Tschechen, Slowaken und Deutschen. Klartext, Essen 2001, ISBN 3-88474-951-X.
The Third Reich between Vision and Reality. New Perspectives on German History 1918–1945. Oxford u. a. 2002, ISBN 1-85973-627-0.
mit Sabine Gillmann: Politische Schriften und Briefe Carl Friedrich Goerdelers. 2 Bände, München 2003, ISBN 3-598-11631-4.
Literatur
Richard Bessel: Functionalists versus Intentionalists: The Debate Twenty Years On or Whatever Happened to Functionalism and Intentionalism? In: German Studies Review. 26, 2003, Heft 1, ISSN0149-7952, S. 15–20.
Norbert Frei: Sensibler Skeptiker und streitbarer Geist Hans Mommsen 1930–2015. In: Geschichte und Gesellschaft. Band 42, 2016, S. 535–548.
Manfred Grieger, Christian Jansen und Irmtrud Wojak (Hrsg.): Interessen, Strukturen, und Entscheidungsprozesse! Für eine politische Kontextualisierung des Nationalsozialismus. Klartext-Verlag, Essen 2010, ISBN 978-3-8375-0403-3.
Christian Jansen, Lutz Niethammer, Bernd Weisbrod (Hrsg.): Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995. Akademie-Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-05-002835-1.
Larry Eugene Jones: Hans Mommsen (1930–2015). In: Central European History. Band 51 (2018), S. 182–203.
Peter Köpf: Die Mommsens. Von 1848 bis heute. Die Geschichte einer Familie ist die Geschichte der Deutschen. Europa-Verlag, Hamburg u. a. 2004, ISBN 3-203-79147-1.
Hans Mommsen (Interview): „Daraus erklärt sich, daß es niemals zuvor eine derartige Vorherrschaft alter Männer gegeben hat, wie in der Zeit von 1945 bis in die 60er Jahre“. Interview in: Rüdiger Hohls, Konrad H. Jarausch (Hrsg.): Versäumte Fragen. Deutsche Historiker im Schatten des Nationalsozialismus. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 2000, ISBN 3-421-05341-3, S. 163–190 (Online auf H-Soz-Kult).
Hans Schneider: Neues vom Reichstagsbrand?. Eine Dokumentation. Ein Versäumnis der deutschen Geschichtsschreibung (= Wissenschaft in der Verantwortung.). Mit einem Geleitwort von Iring Fetscher und Beiträgen von Dieter Deiseroth, Hersch Fischler, Wolf-Dieter Narr. BWV Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-8305-0915-4.
Arno Strohmeyer: Hans Mommsen. In: Almanach. Österreichische Akademie der Wissenschaften. Band 165, 2015, S. 383–388.
Harald Welzer (Hrsg.): Auf den Trümmern der Geschichte. Gespräche mit Raul Hilberg, Hans Mommsen und Zygmunt Bauman (= Studien zum Nationalsozialismus in der Edition diskord Band 3). Edition diskord, Tübingen 1999, ISBN 3-89295-659-6.
Adi Gordon, Amos Morris Reich, Amos Goldberg: The „Functionalist“ and the „Intentionalist“ schools of thought. An Interview With Prof. Hans Mommsen.Ruhr-University Bochum December 12, 1997, Jerusalem (englisch; Transkript online; PDF. Quelle: Multimedia CD ‘Eclipse Of Humanity’, Yad Vashem, Jerusalem 2000.)
Jens Hacke, Julia Schäfer, Marcel Steinbach-Reimann: Interview mit Hans Mommsen zum Thema: „Neubeginn und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft in den 1950/60er Jahren“. In: H-Soz-Kult an der Humboldt-Universität zu Berlin, 3. Februar 1999. (Volltext online.)
Richard Lamers: Expertendiskussion: „Die Geschichtswissenschaft hat eine grundlegende kritische Aufgabe.“ Interview mit Hans Mommsen. In der Rubrik Russland. Denken und Erinnerung, Online-Redaktion. Hrsg. Goethe-Institut, August 2007. (Volltext online).
↑Hans Mommsen: Der Reichstagsbrand und seine politischen Folgen. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Heft 12 (1964), S. 351–413 (Online; PDF; 6,9 MB).
↑Zuletzt Hans Mommsen: Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa. Wallstein, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8353-1395-8.
↑Hans Mommsen: Der Nationalsozialismus. Kumulative Radikalisierung und Selbstzerstörung des Regimes. In: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 16, München 1976, S. 785–790; Hans Mommsen: Nationalsozialismus oder Hitlerismus? In: Michael Bosch (Hrsg.): Persönlichkeit und Struktur in der Geschichte. Düsseldorf 1977, S. 62–71, hier: S. 66.
↑Hans Mommsen: Grass’ Spießrutenlauf. Die Empörung ist so typisch wie verlogen. In: Frankfurter Rundschau, 16. August 2006.
↑Christian Jansen, Lutz Niethammer, Bernd Weisbrod (Hrsg.): Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995. Akademie Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-05-002835-1.
↑Richard Saage: Zum Lebenswerk Hans Mommsens. Laudatio anlässlich der Verleihung des Victor-Adler-Staatspreises der Republik Österreich an Hans Mommsen. 19. April 2013. (Online).