Die Tiszas waren ursprünglich Calvinisten aus dem niederen Adel Siebenbürgens. Kálmán war der Sohn des Lajos Tisza und der Julia, geborene Gräfin Teleki. Sein Bruder war der 1883 in den ungarischen Grafenstand erhobene Lajos Tisza. Als Knabe erhielt er Privatunterricht im väterlichen Schloss. Nach der Niederlage von Solferino wurde Tisza 1861 in die neue ungarische Regierung aufgenommen und nahm 1866 an den österreichisch-ungarischen Ausgleichsverhandlungen teil. Als Führer der Beschlusspartei, welche die Rechtsgültigkeit der 1848er Gesetze durch einfachen Beschluss erklären wollte, konnte er sich gegenüber der Adresspartei von Ferenc Deák nicht durchsetzen. Daneben war Tisza, der ein umfangreiches Erbe erhalten hatte, bis 1875 Vizedirektor der Ungarischen Nordostbahn.[2]
Ministerpräsident
1875 gründete Tisza die Liberale (Freiheitliche) Partei, hervorgegangen aus der politischen Gruppe um Deák, als Sammelbecken für den niederen Adel und Wirtschaftstreibende und übernahm die Leitung der Regierung. Er führte als Ministerpräsident umfangreiche Reformen zur Modernisierung des Landes im Bereich Wirtschaft, Justiz, Sozialwesen und Politik durch. Mit Finanzminister Sándor Wekerle konnte er einen Staatsbankrott abwenden. Durch eine Steuerreform, die auch den großen Landbesitz einschloss, wurden die Staatseinnahmen vervielfacht.[3] Seine Regierung vergrößerte außerdem die Unabhängigkeit gegenüber dem österreichischen Reichsteil Cisleithanien, auch der ungarische Einfluss auf die gemeinsame Außenpolitik der Monarchie nahm stark zu. Die beachtlichen wirtschaftlichen Erfolge während Tiszas Regierungszeit begründeten das Prestige des Landes und modifizierten das Selbstverständnis der ungarischen Politik.[4]
Trotz der anfänglichen Reformen regierte Tisza bald nach dem Prinzip Quieta non movere (was ruht, soll man nicht aufrühren).[5] Die lange Regierungsperiode Tiszas vermittelte den Eindruck großer Stabilität, vor allem verglichen mit dem österreichischen Teil der Doppelmonarchie, wo sich in dieser Zeit elf Regierungen ablösten. Die soziale Entwicklung konnte jedoch nicht mit der relativ konstanten wirtschaftlichen Entwicklung des Landes Schritt halten. Unruhen und wachsender Antisemitismus waren die Folge.[6] Die Bedeutung des politischen Antisemitismus in Transleithanien konnte von Tisza vorübergehend zurückgedrängt werden.[7]
Unter der Regierung Tisza begann die Politik der forcierten kulturellen Magyarisierung Ungarns. Die nichtmagyarische Bevölkerung sollte durch mehr oder weniger sanften Druck die magyarische Sprache und Nationalität annehmen.[8] In mehreren Etappen, zunächst noch zögerlich, wurde unter Tisza jede nationale Äußerung etwa der Slowaken zusehends unmöglich gemacht, die nationale Wiedergeburt der Slowaken wurde durch Tisza bekämpft.[9] Das damalige Meyers Konversations-Lexikon führt an, Tisza habe „freie Hand“ besessen „für die rücksichtslosen Maßregeln zur Magyarisierung Ungarns, welche zu den schreiendsten Ungerechtigkeiten, so gegen die siebenbürgischen Sachsen, führten“.[10] Zwischen 1880 und 1910 stieg der Prozentsatz der sich als Magyaren bekennenden Bürger Ungarns (ohne Kroatien) von 45 auf über 54 Prozent.[11] Tisza erklärte 1875 ohne Umschweife: „Innerhalb Ungarns kann es nur eine lebensfähige Nation geben: Diese politische Nation ist ungarisch. Ungarn kann niemals die Schweiz des Ostens werden, dann würde es aufhören, zu existieren.“[12]
Sein Sohn István Tisza übernahm des Vaters politisches Erbe, seine liberale Partei und wurde ebenfalls langjähriger ungarischer Ministerpräsident.
Literatur
Friedrich Gottas: Ungarn im Zeitalter des Hochliberalismus. Studien zur Tisza-Ära (1875–1890). Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 1976, ISBN 3-7001-0166-X.
↑1883 zu Wien mit dem erblichen ungarischen Grafenstand und mit Hinzugabe des Prädikats „von Szeged“ verliehen an den Bruder Lajos Tisza von Borosjenö, wirklicher Geheimer Rat und königlicher Comissär
↑András Gerő: Modern Hungarian society in the making. The unfinished experience. Verlag Central European Univ. Press, Budapest 1995, ISBN 1-85866-024-6, S. 140.
↑András Gerő: Modern Hungarian society in the making. The unfinished experience. Verlag Central European Univ. Press, Budapest 1995, ISBN 1-85866-024-6, S. 115–122 und 129–136.
↑Anikó Kovács-Bertrand: Der ungarische Revisionismus nach dem Ersten Weltkrieg. Der publizistische Kampf gegen den Friedensvertrag von Trianon (1918–1931). Verlag Oldenbourg, München 1997, ISBN 3-486-56289-4, S. 25.
↑Péter Hanák: Ungarn in der Donaumonarchie. Probleme der bürgerlichen Umgestaltung eines Vielvölkerstaates. Verlag für Geschichte u. Politik, Wien 1984, ISBN 3-7028-0202-9, S. 219.
↑Rolf Fischer: Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn 1867–1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose. Verlag Oldenbourg, München 1988, ISBN 3-486-54731-3, S. 93.
↑András Gerő: Modern Hungarian society in the making. The unfinished experience. Verlag Central European Univ. Press, Budapest 1995, ISBN 1-85866-024-6, S. 6.
↑Robert Bideleux, Ian Jeffries: A history of Eastern Europe. Crisis and change. Verlag Routledge, London 1998, ISBN 0-415-16111-8, S. 365.
↑Manfred Alexander (Hrsg.): Kleine Völker in der Geschichte Osteuropas. Festschrift für Günther Stökl zum 75. Geburtstag. Verlag Steiner, Stuttgart 1991, ISBN 3-515-05473-1, S. 80f.
↑Wolfdieter Bihl: Der Weg zum Zusammenbruch. Österreich-Ungarn unter Karl I.(IV.). In: Erika Weinzierl, Kurt Skalnik (Hrsg.): Österreich 1918–1938: Geschichte der Ersten Republik. Graz/Wien/Köln 1983, Band 1, S. 27–54, hier S. 44.
↑Paul Lendvai: Das einsamste Volk Europas – Nur ein aufrichtiger Umgang mit der eigenen Vergangenheit kann Ungarn vor der mentalen Verwahrlosung bewahren. In: NZZ. 21. Februar 2011, S.33.