Kuli (Tagelöhner)Als Kuli (englisch Coolie) wurden überwiegend chinesische und südasiatische ungelernte Lohnarbeiter im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts bezeichnet, die für ein Unternehmen als Kontraktarbeiter oder Tagelöhner arbeiteten. Ihr Einsatz erfolgte überwiegend auf Plantagen, in Kohleminen, als Lastenträger oder für andere gering bezahlte körperliche Tätigkeiten. Die Anwerbung der Kulis erfolgte oft unter Zwang und mittels Methoden, die dem Sklavenhandel entsprachen. Die Mehrzahl der Betroffenen wurde in britische Kolonialgebiete Südostasiens sowie Mittel- und Südamerikas verbracht. Aufgrund der erzwungenen Ab- und Ausgrenzung in den Zielländern entwickelte sich die Diaspora der Überseechinesen.[1][2] Das Wort Kuli hat sich in verschiedenen Ländern als Bezeichnung für Gepäckwagen (Kofferkuli) auf Bahnhöfen erhalten. Auf Personen bezogen kann es abwertend verstanden werden. EtymologieNach dem Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache geht das Wort Kuli über englisch coolie und Hindi कुली kulī „Lastträger“ auf den Namen einer Ethnie im nordwestindischen Gujarat zurück, deren Angehörige sich oft als Lohnarbeiter verdingten. Auch eine mögliche Herkunft vom tamilischen கூலி kūli, „Lohn, Tagelohn“, wird vorgeschlagen.[3] Eine andere Theorie vermutet den Ursprung in einer Turksprache, dem Tschagataischen, die Sprache Baburs, der im 16. Jahrhundert Nordindien eroberte. Darauf deutet das türkische Wort kul mit der Bedeutung „Knecht, Sklave“ hin. In diesem Fall hätte sich das Wort über Urdu qulī in weitere Sprachen Indiens verbreitet. Ins Chinesische ist das Wort erst später gelangt. Dort sieht es in der Form 苦力, kǔlì, wie eine chinesische Zusammensetzung aus. Die Bedeutung von „苦, kǔ“ ist nämlich „bitter, hart“ und „力, lì“ kann als „Arbeitskraft“ aufgefasst werden. Deshalb ist der Ursprung des Wortes gelegentlich im Chinesischen vermutet worden. Niederländisch koelie war gleichfalls die Bezeichnung für die Vertragsarbeiter (niederländisch contractarbeiders) in Niederländisch-Indien zwischen etwa 1820 und 1941. GeschichteSeit dem Wiener Kongress 1814 war der Sklavenhandel weltweit verboten, in den USA erst 1864. Dadurch fehlten in den überseeischen Kolonien die schwarzen Sklaven als billige Arbeiter. Die entstandene Lücke wurde schnell durch Blackbirding und in enormen Dimensionen durch das sogenannte Indentured Labour, ein 1806 durch die Briten weltweit eingeführtes System der Kontraktarbeit, geschlossen. Betroffen waren indische, ab 1840 größtenteils chinesische Arbeitskräfte, die auf Basis der Indenturverträge die Bezeichnung Kulis erhielten.[4] Die Beschaffung der Kulis war häufig mit Verschleppung verbunden und erfolgte zu einem großen Teil über Hauptumschlagsplätze wie Hongkong, Kanton und insbesondere Macau. Überwiegend junge Männer wurden unter häufig falschen Versprechen, unter Zwang und teilweise durch Entführung in „gefängnisartige, niedrige Baracken“ (Barracoons) gesperrt und später verschifft. In diesen Depots waren „die Kulis in einer Weise untergebracht, die ohne Übertreibung als unmenschlich bezeichnet werden müssen“, wie das deutsche Konsulat noch 1902 nach Berlin berichtete.[5] Die Insassen der Barracoons gelangten, nicht selten unter Anwendung von Gewalt, auf meist überfüllte Dampfschiffe. Die Bedingungen der Unterbringung, Verpflegung und Überfahrt waren häufig so unerträglich, dass es nicht nur zu zahlreichen Todesfällen, sondern wiederholt zu Revolten und Meutereien kam.[1][6] An dem Kulihandel waren nahezu alle Nationen beteiligt, die Handel in Ostasien trieben. Von Hongkong und Macau wurden Hunderttausende Arbeitskräfte nach Singapur verbracht, wo sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine große chinesische Diaspora etablierte. Singapur entwickelte sich zum wichtigsten „Kuli-Umschlagplatz“. Von dort wurden die „Auswanderer“ in offiziell sogenannten Kulipassagen nach Afrika, Nord-, Mittel- und Südamerika und ganz Südostasien verschifft. Den Transport der Menschen von China nach Singapur beherrschten fast ausschließlich britische Reedereien in Linienschifffahrt. Unter den 289 Dampfern, die in einem regelrechten Dauerbetrieb beispielsweise im Jahr 1890 chinesische Arbeiter nach Singapur brachten, befand sich nur ein chinesisches Schiff. Allerdings beteiligten sich keine zehn Jahre später Chinesen, die in Singapur die britische Staatsangehörigkeit erworben hatten, an dem „Kuli-Export“ und richteten unter britischer Flagge eigene Dampferlinien ein. Der größte Bedarf an billigen Arbeitskräften bestand in britischen und französischen Kolonien. Auch deutsche Unternehmer warben Kulis für die Arbeit in einzelnen deutschen Kolonien an.[7] Der Transport nach Nord- und Südamerika erfolgte mit amerikanischen, überwiegend jedoch ebenfalls mit britischen Schiffen und brachte den Händlern und Kapitänen die höchsten Gewinne. Viele Chinesen starben bei der Überfahrt. Für diejenigen, die das Zielland erreichten, hatte dieses oft nicht mehr zu bieten als China selbst.[8] Kulis wurden häufig zu harten Arbeiten auf den Plantagen, in Bergwerken oder in Amerika vor allem bei dem Bau der Eisenbahn und in kalifornischen Minen herangezogen. Sie hatten einen „Kuli-Vertrag“ zu unterschreiben, durch den sie sich unter strengen Auflagen an das jeweilige Unternehmen banden (Indentur). So musste ein Kuli mindestens zehn Stunden am Tag arbeiten und durfte nicht ohne vorherige Erlaubnis die Arbeitsstätte verlassen.[9] Auch junge Frauen und Kinder wurden entführt. Der Anteil verheirateter Frauen, die den Weg ins Ausland fanden, lag Schätzungen zufolge bei weniger als 15 Prozent. Das heißt, fast 85 Prozent der deportierten Frauen waren junge Mädchen, die gezielt als Prostituierte mit verschifft wurden, da die „Gelbe Rasse“ unter sich bleiben sollte. Die Angst vor der „Rassenmischung“ vereinte alle Kolonialmächte. In den USA und Australien hatte die xenophobe Propaganda der „Gelben Gefahr“ bereits eine längere Geschichte; in Europa begann die fremdenfeindliche Konjunktur erst in den 1890er Jahren. Es handelte sich dabei um ein US-amerikanisches und gesamteuropäisches Ressentiment gegen ostasiatische Völker, insbesondere gegen Chinesen.[10] Während die Mehrzahl europäischer Forscher in der neueren Historiografie die illegalen Methoden bei der Rekrutierung der chinesischen Arbeiter nicht verleugnet, behaupten nicht wenige US-amerikanische Historiker, ohne dies belegen zu können, dass „Chinesen, die nach Nordamerika gingen, dies fast ausnahmslos als freie Männer mit landwirtschaftlicher, handwerklicher oder kaufmännischer Berufserfahrung taten und nicht als Kulis“; sie räumen aber ein, dass „die chinesischen Einwanderer in den USA vor dem Hintergrund der anti-chinesischen Propaganda der Zeit häufig abwertend als Kulis bezeichnet wurden“.[11] Tatsächlich haben sich amerikanische Unternehmen mit Billigung der US-Regierung aktiv an dem Menschenhandel beteiligt. Dokumentiert sind unter anderem zeitgenössische Angaben des Kapitäns der Messenger, ein amerikanisches Schiff, das regelmäßig Kulipassagen zwischen San Francisco und Hongkong anbot. Beispielsweise vermerkte der Kapitän am 5. Oktober 1859 im Logbuch: „500 Kulis an Bord, von denen die meisten, wenn nicht alle, in den Küstenregionen entführt wurden.“[12] Nachweislich gelangten allein über San Francisco zwischen 1870 und 1882 jährlich rund 18.000 Chinesen in die USA. Der Chinese Exclusion Act schränkte ab 1882 zwar die Immigration stark ein, konnte jedoch umgangen werden, wenn die Schiffe zuerst Häfen in Zentralamerika anliefen. Während und nach dem Philippinisch-Amerikanischen Krieg, bei dem etwa eine Million Filipinos ums Leben kamen, setzte die neue amerikanische Kolonialmacht ungezählte chinesische Kulis als billige Arbeitskräfte in den Kolonien und Protektoraten der Vereinigten Staaten ein. Auch über Hawaii und Kuba lief der Kulihandel amerikanischer Firmen weiter, wo Tausende Chinesen für die Arbeit auf Zuckerrohrplantagen eingesetzt wurden.[13] In die internationale Seemannsprache ging die gewaltsame Rekrutierung der Arbeitskräfte als Schanghaien ein. Seinen Höhepunkt erreichte der Kulihandel zwischen 1890 und 1911. Der weitaus größte Teil der chinesischen Kulis gelangte in die britischen Straits Settlements sowie britischen Kolonien in der Südsee und Australien. Allein schon bis 1858 sollen nach Australien rund 40.000 Chinesen verschifft worden sein, nachdem die britische Regierung ab Mitte des 19. Jahrhunderts keine Strafgefangenen mehr nach „Down Under“ deportierte, weshalb ein Mangel an Arbeitskräften speziell in der australischen Wollproduktion bestand. Nach der Jahrhundertwende erfolgte die Verschiffung vieler Kulis nach Südafrika. In der Folge des Zweiten Burenkrieges fehlten in den dortigen Goldminen billige Arbeiter, so dass die britische Regierung den Transport indischer und chinesischer Kulis überwiegend nach Transvaal forcierte. Allein zwischen Juni 1904 und November 1906 kamen 63.296 chinesische Kulis in der Transvaal-Kolonie an.[13] Der Kulihandel brach erst nach Gründung der Republik China zusammen, nachdem Sun Yat-sen 1912 für Menschenhandel in China konsequent die Todesstrafe durchsetzte – auch das ein Beleg dafür, dass bis dahin die Mehrzahl der Auswanderungen nicht freiwillig erfolgte.[14] ZeitzeugnisseEin bemerkenswertes Zeitdokument stellt ein Bericht pommerscher Missionare dar, der unter der Überschrift Der Kulihandel – Ein Aufruf an die Menschheit des 19. Jahrhunderts am 1. November 1873 in der Zeitung Evangelischer Reichsbote erschien (Auszüge, gekürzt):
Der österreichische Forschungsreisende und spätere Diplomat Karl von Scherzer, der zwischen 1857 und 1859 an der Novara-Expedition teilnahm, hielt in seinem Buch Reisen der österreichischen Fregatte Novara um die Erde über den Kulihandel fest (Auszüge, gekürzt):
Stellvertretend für das Schicksal vieler entführter Chinesen steht die Aussage eines 23-jährigen Kulis vom 4. Januar 1860 während der Fanny-Kirchner-Affäre:
Aus einer anderen Perspektive schilderte der Reiseschriftsteller Otto Ehrenfried Ehlers 1896 in der Zeitschrift Im Osten Asiens seine Sicht des Kulihandels:
NachwirkungenDie chinesischen Kulis erwarben sich in Übersee rasch einen Ruf als fleißige und äußerst genügsame Arbeiter. Mark Twain hielt in seinem 1872 veröffentlichten Buch Roughing it fest: „Ein unordentlicher Chinamann ist selten und einen faulen gibt es nicht“. Dennoch waren die chinesischen Einwanderer in fast allen Erdteilen sehr bald Anfeindungen ausgesetzt – vor allem seitens der weißen Arbeiterschaft, die in ihnen missliebige Lohndrücker und Streikbrecher sahen. Die Folge waren Diskriminierungen und rassistische Übergriffe, die mitunter tödlich endeten.[18] Nicht nur in Südafrika organisierten sich weiße Arbeiter und Angestellte in antichinesischen Vereinen, um weitere Einwanderungen der Kulis zu stoppen. Die Einführung diskriminierender Gesetze in manchen Ländern, insbesondere in den USA, wo unter anderem die Einwanderung chinesischer Ehefrauen nicht erlaubt war, führte bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Rückkehrwelle in die Heimat. Der Entscheid dürfte einigen Kulis nicht schwer gefallen sein, warteten doch in vielen Fällen die zurückgelassenen Frauen und Kinder sehnsüchtig auf sie.[18] Trotz der sozialen Ausgrenzung blieben Millionen Kulis in der Fremde, weil sie sich die Rückfahrt nicht leisten konnten oder ihr Glück mit der Eröffnung eines Restaurants, einer Wäscherei, eines Lebensmittelladens oder Ähnlichem suchten. Die soziale Ausgrenzung führte weltweit zu einer Politik der Abschottung und zur Bildung chinesischer Enklaven, die ihren Ausdruck in Chinatowns und China Townships fanden. Im Gegensatz zu klassischen Einwanderervierteln entwickelten sich diese „Chinesenstädte“ zu keinen Übergangsstationen, sondern nahmen eine dauerhafte wirtschaftliche und soziologische Sonderstellung ein. Kantonesisch blieb in allen Chinatowns die führende Sprache; wann immer möglich wurden Netzwerke (Guanxi) zur alten Heimat geknüpft und gepflegt.[19] Die Diaspora und Methoden des Kulihandels haben in der nationalen Erinnerung Chinas einen festen Platz. Menschenhandel wird bis heute in ganz China, sowohl in der Volksrepublik China wie in der Republik China (Taiwan), mit der Todesstrafe geahndet (Stand 2018). Zugleich gehören vor allem die erzwungenen Auswanderungen der chinesischen Arbeiter und die Diskussion über ihr überseeisches Schicksal zu wichtigen Faktoren, die zur Stärkung des chinesischen Nationalismus beitrugen. Zahlreiche junge Überseechinesen leisteten als Aktivisten einen entscheidenden Beitrag zur politischen Geschichte der chinesischen Wiedervereinigung. Sun Yat-sen bezeichnete die chinesische Gemeinschaft im Ausland als „Mutter der chinesischen Revolution“ von 1911.[20] Die globale Mobilität der Kulis war nicht nur ein Faktor bei der Entstehung nationaler Zugehörigkeit und weltweiter Vernetzung. Vor allem in südostasiatischen Ländern hat die chinesische Präsenz die gesellschaftlichen Entwicklungen und Auseinandersetzungen nachhaltig verändert, die häufig bis in die Gegenwart anhalten. Schätzungen gehen heute von 60 Millionen im Ausland lebender Chinesen aus.[21] Über 75 Prozent der Einwohner Singapurs sind Auslandschinesen; damit ist Singapur de facto ein chinesischer Staat. Etwa 30 Prozent der Bevölkerung von Malaysia sind Chinesen. In anderen Ländern wie Indonesien, Myanmar, Südkorea, Thailand oder Vietnam liegt ihr Anteil an der Bevölkerung unter zehn Prozent. Allerdings dominieren Auslandschinesen in allen Staaten Südostasiens in Handel und Industrie.[22][23] In keinem Staat Südostasiens sind die Nachfahren der Kulis in derart regelmäßigen Abständen Zielscheibe für Gewaltausbrüche wie in Indonesien. Sie sind oft Sündenböcke für den Währungsverfall, die rapide Verteuerung der Lebensmittel etc. Mit acht Millionen verzeichnet Indonesien weltweit die größte chinesische Minderheit. Zwar stellen die Auslandschinesen hier nur vier Prozent der Gesamtbevölkerung, sie kontrollieren jedoch etwa 80 Prozent des gesamten Privatvermögens Indonesiens.[2] Auf den Philippinen sind nur ein Prozent der Bevölkerung Nachfahren der chinesischen Einwanderer, trotzdem befinden sich hier ebenfalls weite Teile der Wirtschaft in ihrer Hand. 90 Prozent aller Entführungsopfer auf den Philippinen sind ethnische Chinesen. In Malaysia verabschiedet die Regierung regelmäßig Gesetze, die Chinesen, die ein Drittel der Bevölkerung stellen, die Geschäfte erschweren sollen. Hingegen werden in Thailand die 6,5 Millionen Chinesen als Teil der Gesellschaft akzeptiert und als Geschäftsleute geachtet. Ähnlich ist die Situation in Südkorea.[24] Obwohl die Bezeichnung Kuli heute in fast allen Ländern der Erde als abwertend und rassistisch angesehen wird, findet der Begriff insbesondere in Südostasien, in der Karibik und in Südafrika unverändert Verwendung. Dies geschieht nicht selten beabsichtigt in einem abwertenden Kontext, oft aber unbedacht im allgemeinen Sprachgebrauch, um sich auf Personen indischer oder südasiatischer Abstammung zu beziehen.[25] Der Gebrauch des Wortes Kuli ist heute in Südafrika und Namibia als Hate Speech (Hasswort) verboten.[26] Siehe auchEinzelnachweise
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