Marshall Sahlins wuchs in Chicago auf. Seinen BA und MA erwarb er an der University of Michigan, wo er bei Leslie White studierte. 1954 wurde Sahlins Ph.D. an der Columbia University. Hier wurde er durch Karl Polanyi und Julian Steward intellektuell beeinflusst. Er kehrte in den 1960er Jahren als Dozent an die University of Michigan zurück und wurde bei Protesten gegen den Vietnamkrieg politisch aktiv: Gemeinsam mit seinem Kollegen Eric Wolf organisierte er das erste Teach-in.
Sahlins trat 2013 aus Protest gegen die Zuwahl von Napoleon Chagnon aus der National Academy of Sciences aus.[2] Er starb im April 2021 im Alter von 90 Jahren in Chicago.
Position
Sahlins’ Forschungen konzentrierten sich auf die Frage, mit welchem Potenzial die Kultur auf Wahrnehmungen und Handlungen der Menschen einwirken kann. Er wollte vor allem beweisen, dass die Kultur eine einzigartige Kraft zur Motivation der Menschen besitzt, die nicht biologischen Ursprungs ist. Seine frühen Arbeiten dienten dazu, die Vorstellung vom Homo oeconomicus zu relativieren und zu zeigen, dass sich das ökonomische System in kulturell spezifischen Weisen der jeweiligen Umwelt anpasst. In diesem Zusammenhang prägte er den Begriff von der „ursprünglichen Wohlstandsgesellschaft“ der Jäger und Sammler, die wesentlich weniger Zeit für ihren Lebensunterhalt aufwänden würden als andere Kulturen.
Nach der Veröffentlichung von Culture and Practical Reason (1976) widmete sich Marshall Sahlins der Beziehung zwischen Geschichte und Anthropologie sowie der Art, wie verschiedene Kulturen Geschichte verstehen und schaffen. Obwohl der gesamte Pazifik in seinem Blickfeld lag, betrieb er die meiste Forschung auf den Fidschi-Inseln und in Hawaii.
In seinem Werk Evolution and Culture (1960 und 1988) befasste sich Sahlins mit der kulturellen Evolution und dem Neoevolutionismus. Die Evolution von Gesellschaften unterteilte er darin in allgemein und spezifisch. Als allgemeine Evolution bezeichnete er die Tendenz kultureller und sozialer Systeme, sich bezüglich der Komplexität, Organisation und Anpassung an die Umgebung zu vergrößern. Da die einzelnen Kulturen jedoch nicht isoliert sind, komme es zu Interaktion und einer Diffusion ihrer Qualitäten (zum Beispiel technologische Erfindungen). Dies führe dazu, dass sich die Kulturen unterschiedlich entwickeln (spezifische Evolution), da diverse Elemente in verschiedenen Kombinationen und in verschiedenen Entwicklungsstufen eingeführt würden.
Ende der 1990er Jahre lieferte sich Sahlins eine heiße Debatte mit Gananath Obeyesekere über die Details des Todes von James Cook auf Hawaii im Jahre 1779. Im Mittelpunkt der Debatte stand die Frage nach der Beurteilung der Rationalität indigener Völker. Obeyesekere bestand darauf, dass sie grundsätzlich genauso dächten wie Menschen aus der westlichen Welt, und befürchtete, dass jede andere Einschätzung sie als „irrational“ oder „unzivilisiert“ einstufen würde. Sahlins hingegen sah die westlichen Denkweisen selbst kritisch und betonte, dass indigene Kulturen anders und dabei denen im Westen gleichwertig seien.
Veröffentlichungen
Autor
Social Stratification in Polynesia. Seattle University of Washington Press 1958.
Moala. Culture and Nature on a Fijian Island. University of Michigan Press, Ann Arbor 1962.
Culture and Practical Reason. University of Chicago Press, Chicago 1976, ISBN 0-226-73361-0.
Deutsche Ausgabe: Kultur und praktische Vernunft. Übersetzt von Brigitte Luchesi. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, ISBN 3-518-06424-X.
The Use and Abuse of Biology. An Anthropological Critique of Sociobiology. University of Michigan Press, Ann Arbor 1977, ISBN 0-472-76600-7.
Historical Metaphors and Mythical Realities. 1981
Deutsche Ausgabe: Der Tod des Kapitän Cook. Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit in der Frühgeschichte des Königreichs Hawaii. Übersetzt von Hans Medick u. Michael Schmidt, Wagenbach, Berlin 1986, ISBN 3-8031-3532-X.
Islands of History. University of Chicago Press, Chicago 1987, 0-226-73358-0.
Inseln der Geschichte. Übersetzt von Ilse Utz. Junius Hamburg 1992 ISBN 3885061937
Über Könige. Versuche einer Archäologie der Souveränität, aus dem amerikanischen Englisch von Daniel Fastner, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2022, ISBN 978-3-8031-5193-3.
The New Science of the Enchanted Universe: An Anthropology of Most of Humanity. Princeton University Press, 2022, ISBN 978-0-691-21592-1.
Neue Wissenschaft des verwunschenen Universums. Eine Anthropologie fast der gesamten Menschheit, übersetzt von Heide Lutosch, Matthes & Seitz, Berlin 2023, ISBN 978-3-7518-2002-8
Herausgeber
Thomas Harding u. David Kaplan: Evolution and Culture. Gemeinsam mit Elman Service. University of Michigan Press, Ann Arbor 1960.