Bei Bauteilen wird vor Berechnung oftmals die statische Bestimmtheit untersucht. Sie dient dazu zu wissen, ob ein System beweglich ist, oder ob sich Zwängsspannungen ergeben können, und somit welche Berechnungsmethoden angewandt werden können. Im Maschinenbau müssen Bauteile oft beweglich (statisch unterbestimmt[1][2][3]) sein, also einen LaufgradF ≥ 1 aufweisen. Im Bauwesen hingegen dürfen Tragwerke in der Regel nicht instabil sein. Daher sind in der Baustatik die meisten Konstruktionen statisch überbestimmt[4][5][6]. Man benötigt zur Berechnung zusätzlich materialspezifische Verformungsbedingungen. In der Statik starrer Körper fokussiert man sich auf statisch bestimmte Systeme, die sich im Allgemeinen besonders einfach lösen lassen, da man die Auflagerreaktionen ausschließlich mit Gleichgewichtsbedingungen lösen kann. Da Systeme gleichzeitig statisch überbestimmt und statisch unterbestimmt sein können, reicht das (notwendige aber nicht hinreichende) Abzählkriterium hier nicht aus, da sich die beiden Effekte in der Gleichung aufheben. Daher muss man es aus der Anschauung überprüfen und kann es mit dem Abzählkriterium nur auf Plausibilität überprüfen.
Relationen zwischen Reaktionen und Bewegungsmöglichkeiten
Ein Tragwerk ist statisch bestimmt, wenn jede Starrkörper-Bewegungsmöglichkeit genau durch eine Lager- oder Verbindungsreaktion unterbunden wird. D.h., wenn ein System statisch bestimmt ist, dann ist die Anzahl der Lager- und Verbindungsreaktionen gleich der Anzahl der möglichen Starrkörper-Bewegungsmöglichkeiten. Allerdings folgt daraus umgekehrt nicht zwingend, dass ein Tragwerk statisch bestimmt gelagert ist, wenn die Anzahl der Lager- und Verbindungsreaktionen gleich der Anzahl der möglichen Starrkörper-Bewegungsmöglichkeiten ist (es handelt sich also nur um eine notwendige Bedingung für statische Bestimmtheit). Zur Bestimmung der Auflagerreaktionen und der Schnittgrößen reichen für statisch bestimmte Systeme in der Theorie I. Ordnung die Gleichgewichtsbedingungen aus.[7]
Ein Tragwerk ist statisch unbestimmt (bzw. statisch überbestimmt), wenn die Anzahl der Lager- und Verbindungsreaktionen die Anzahl der möglichen Starrkörper-Bewegungsmöglichkeiten übersteigt. Mindestens einer Starrkörper-Bewegungsmöglichkeit wirkt also mehr als eine Reaktion entgegen.[7] Die Berechnung der Reaktionswerte ist im Allgemeinen nur unter Berücksichtigung der Verformungseigenschaften von Elementen solcher Tragwerke möglich.
Ein Tragwerk ist statisch unterbestimmt, wenn mindestens einer Starrkörper-Bewegungsmöglichkeit keine Reaktion entgegenwirkt, d. h., wenn der Körper sich im Sinne eines Starrkörpers (infinitesimal[A 1]) bewegen kann: frei verschieben oder drehen oder innere Verschiebungen einer kinematischen Kette.[7] Wenn die Anzahl der Lager- und Verbindungsreaktionen kleiner ist als die Anzahl der möglichen Starrkörper-Bewegungsmöglichkeiten, ist ein Tragwerk statisch unterbestimmt, allerdings folgt aus einer statischen Unterbestimmtheit nicht zwangsläufig, dass die Anzahl der Lager- und Verbindungsreaktionen kleiner ist als die Anzahl der möglichen Starrkörper-Bewegungsmöglichkeiten, da in der Abzählformel (s. u.) eine mehrfache statische Überbestimmtheit eine statische Unterbestimmtheit aufheben kann. Deshalb sind andere Methoden als die Abzählformel, wie das Aufbau/Abbaukriterium oder aus der Anschauung, zuverlässiger.
Grad der statischen Unbestimmtheit
Der Grad der statischen Unbestimmtheit wird in der Baustatik mit der ganzzahligen Größe angegeben:
Beim Aufbaukriterium ist es zielführend von einem statisch bestimmten Grundsystem auszugehen und durch Ergänzen/Entfernen von Bindungswertigkeiten/Lagerreaktionen das gewünschte System zu bekommen.[15]
Hierbei startet man üblicherweise bei einem
Träger auf zwei Stützen
einem Kragarm
Einem Dreigelenkrahmen
einem dreieckigen Fachwerk aus drei gelenkig verbundenen Stäben
Statisch unbestimmtes System mit Freiheitsgrad n > 0
Statisch bestimmtes Grundsystem
Statisch bestimmtes Grundsystem mit Kragarmen
Man fügt 7 Lagewertigkeiten hinzu.
Beispiel:
Bei einem System ist der Grad der statischen Unbestimmtheit gesucht.
Es wird ein (ähnliches) statisch bestimmtes Grundsystem gewählt und anschließend statisch bestimmte Kragarme hinzugefügt.
Man fügt Bindungen und Lagerreaktionen hinzu (bzw. bei kinematischen Systemen entfernt sie) und zählt ihre Wertigkeit zusammen.
Allgemeines Abzählkriterium
Die Bestimmung von n kann mit der folgenden, als Abzählkriterium bekannten Formel erfolgen:[16][17][18]
ebene Tragwerke:
räumliche Tragwerke:
Hierbei sind:
: Anzahl der möglichen Auflagerkräfte (Wertigkeiten der Auflager)
: Anzahl der möglichen Zwischenkräfte (Wertigkeiten der Verbindungen),
: Anzahl der starren Bauteile/Träger.
durch Umformen bekommt man auch folgende alternative Formel:
⇐ der Gerberträger ist ein statisch bestimmtes Tragwerk.
Das Abzählkriterium ist zwar eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Unter- und Überbestimmtheiten können sich bei diesem Verfahren gegenseitig aufheben. Beispiel hierfür ist ein zweiteiliger Balken, der auf drei Loslagern liegt: Trotz ermitteltem n = 0 ist er offensichtlich nicht statisch bestimmt.[20][17] Daher ist zusätzlich z. B. mit der Kinematik durch einen Polplan eine Aussage über die Verschieblichkeit des Tragwerks zu treffen.
Abzählkriterium für ebene Fachwerke
Für ebene ideale Fachwerke kann ein vereinfachtes Abzählkriterium verwendet werden, da alle Stäbe beidseitig gelenkig verbunden sind:[21][17]
Hierbei sind:
: Summe der in den Auflagerdrehgelenken unterbundenen Bewegungsmöglichkeiten (Wertigkeiten der Auflager)
: Anzahl der Stäbe
: Anzahl der Drehgelenksknoten (Auflager + Verbindungen).
Dieses Abzählkriterium ergibt sich daraus, dass bei Fachwerken in den Auflagern und Verbindungen nur Drehgelenke vorkommen (oder als solche bewertet werden).
Beispiel: nebenstehend abgebildetes Fachwerk
⇐ das nebenstehend abgebildete Fachwerk ist statisch bestimmt.
Auch das Abzählkriterium für Fachwerke ist nur eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für den Nachweis statischer Bestimmtheit.[22]
Gleichgewichtsbedingungen
Alle statisch bestimmten Systeme können mit den Gleichgewichtsbedingungen, auch Äquivalenzbedingungen, berechnet werden.
Ebenes System
In einem starren ebenen System ist der Freiheitsgrad = 3: Zwei translatorische Bewegungsmöglichkeiten und eine rotatorische Bewegungsmöglichkeit. Um ein bestimmtes Gleichungssystem zu erhalten, sind daher drei Gleichungen nötig. Jede dieser drei Gleichungen behandelt eine Bewegungsmöglichkeit. Die Summen der Horizontalkräfte, Vertikalkräfte und Momente für einen festgelegten Bezugspunkt A müssen bei einem Gleichgewichtssystem 0 sein:
Der Äquivalenzsatz für allgemeine Kräftesysteme, der auf die Reduktion auf Dynamen beruht, besagt, dass bei den Gleichgewichtsbedingungen Kräftegleichungen durch Momentengleichungen ersetzt werden dürfen. Mögliche Gleichgewichtsbedingungen in der Ebene sind damit auch:
Bei dieser Vorgehensweise muss jedoch auf möglicherweise auftretende lineare Abhängigkeiten geachtet werden. Werden beispielsweise nur Momentengleichungen verwendet und liegen alle Bezugspunkte auf einer Geraden, so liegt keine gültige Äquivalenzbedingung vor.[17]
In einem zentralen Kräftesystem, also einem Kräftesystem, in dem sich die Wirkungslinien aller Kräfte in einem Punkt schneiden, treten keine Momente auf, sodass hier nur zwei Gleichungen nötig sind:
Im Raum gibt es drei translatorische und drei rotatorische Bewegungsmöglichkeiten, somit besteht die Gleichgewichtsbedingung aus sechs Gleichungen: Drei Gleichungen behandeln die Kraft in jeder der drei Koordinatenrichtungen, drei weitere Gleichungen das Moment in jeder der drei Koordinatenrichtungen:
Auch im Raum ist es möglich, eine oder mehrere Kräftegleichungen durch Momentengleichungen zu ersetzen.
Schnittgrößen infolge Zwang
In statisch bestimmten Systemen verursachen Verformungen durch Verschiebungen und Verdrehungen der Lager, Temperaturdehnungen, Kriechen und Schwinden von Beton i. A. keine Schnittgrößen, jedoch können Eigenspannungen auftreten. Durch Verformungen können z. B. Schiefstellung von Stützen hervorgerufen werden, was i. d. R. zu einer Änderung der Schnittgroßen führt.
Vor allem im Verbundbau dürfen Eigenspannungen infolge Verformungen i. A. selbst bei statisch bestimmten Systemen nicht vernachlässigt werden, man spricht dann von primären Zwängsspannungen, welche (ohne äußere Belastung) bei statisch überbestimmten Systemen zu sekundären Zwängsspannungen führen.
In statisch unbestimmten Systemen entstehen durch die o. g. Einwirkungen i. A. Schnittgrößen.
Bei der Berechnung statischer (bzw. dynamischer) Systeme sind Zwängsspannungen i. A. zu berücksichtigen.
Innere und äußere statische Bestimmtheit
Bei einer Reihe von Stabtragwerken ist es zweckmäßig und anschaulich, zwischen innerer und äußerer statischer Bestimmtheit zu unterscheiden:
ein System heißt innerlich statisch bestimmt, falls die Schnittgrößen an geschnittenen Teilsystemen mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingungen aus der Belastung berechnet werden können;
ein System oder Systemteil heißt äußerlich statisch bestimmt, wenn die äußeren Lagerreaktionen allein mit Hilfe der Gleichgewichtsbedingungen aus der Belastung berechnet werden können.
Vergleich mit der mathematischen Definition
Die Definition der Bestimmung leitet sich aus dem mathematischen Begriff überbestimmt ab. Da sich jedoch sowohl manche statisch unterbestimmten wie auch manche statisch überbestimmten Systeme eindeutig lösen lassen und dabei keine der beschreibenden Gleichungen wegstreichbar ist, kann die Begrifflichkeit nicht 1:1 übertragen werden.
Wenn ein System statisch überbestimmt ist, gibt es zu viele Verformungsgleichungen (Rand- und Übergangsbedingungen), aber gleichzeitig treten zu wenig Unbekannte in den Gleichgewichtsbedingungen auf. Für die Bestimmung eindeutiger Lösungen können Beschreibungen des Verformungsverhaltens hinzugezogen werden.
Ist ein System statisch unterbestimmt, gibt es zu wenige Lagegleichungen um die Unbekannten in den Gleichgewichtsbedingungen eindeutig zu bestimmen. Zusätzliche Gleichungen, die etwa die Trägheitskräfte bei Bewegung des Systems beschreiben, können zu eindeutigen Lösungen führen.
↑z. B. ein Träger auf zwei Stützen, bei dem man ein Gelenk in der Mitte einfügt
Einzelnachweise
↑Tobias Nef, Gery Colombo, Robert Riener: ARMin – Roboter für die Bewegungstherapie der oberen Extremitäten (ARMin – Robot for Movement Therapy of the Upper Extremities). Band53, Nr.12, 1. Dezember 2005, ISSN2196-677X, S.597–606, doi:10.1524/auto.2005.53.12.597.
↑Karl-Heinrich Grote, Beate Bender, Dietmar Göhlich: Dubbel: Taschenbuch für den Maschinenbau. Springer-Verlag, 2018, ISBN 978-3-662-54805-9 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
↑Dieter Dinkler: Grundlagen der Berechnungsverfahren. In: Grundlagen der Baustatik: Modelle und Berechnungsmethoden für ebene Stabtragwerke. Vieweg+Teubner, Wiesbaden 2011, ISBN 978-3-8348-9862-3, S.31–64, doi:10.1007/978-3-8348-9862-3_3.
↑Danny Raupach: Toleranzgrenze an Kunststoffbauteilen. 2005 (fh-zwickau.de [abgerufen am 21. März 2021]).
↑Oliver Romberg, Nikolaus Hinrichs: Keine Panik vor Mechanik! – Erfolg und Spaß im klassischen „Loser-Fach“ des Ingenieurstudiums. In: Studieren ohne Panik. 8., überarbeitete Auflage. Band4. Vieweg+Teubner Verlag, 2011, ISBN 978-3-8348-1489-0, doi:10.1007/978-3-8348-8174-8 (349 S., Erstausgabe: 1999).
↑B. Kauschinger, St. Ihlenfeldt: 6. Kinematiken. (PDF) Archiviert vom Original am 27. Dezember 2016; abgerufen am 27. Dezember 2016.
↑Es kann bei n = 0 eine x-fache statische Überbestimmtheit und gleichzeitig eine x-fache statische Unterbestimmtheit vorliegen, die sich in der Formel aber nicht in den mechanischen Eigenschaften aufhebt. Mit × ∈ ℕ.
↑Tobias Nef, Gery Colombo, Robert Riener: ARMin – Roboter für die Bewegungstherapie der oberen Extremitäten. In: Automatisierungstechnik. Band53, Nr.12, 2005.
↑Wilhelm Schröder: Feinpositionierung mit Kugelgewindetrieben. Nr.11907. Diss. Techn. Wiss. ETH Zürich, 1996, doi:10.3929/ethz-a-001702546 (ethz.ch [PDF]).
↑Dieter Dinkler: Grundlagen der Baustatik Modelle und Berechnungsmethoden für ebene Stabtragwerke. Springer, 20. März 2012, Grundlagen der Berechnungsverfahren, S.31–64, doi:10.1007/978-3-8348-2372-4_3.
↑Bernhard Pichler, Josef Eberhardsteiner: Baustatik VO – LVA-Nr. 202.065. Hrsg.: E202 Institut für Mechanik der Werkstoffe und Strukturen – Fakultät Bauingenieurwesen, TU Wien. SS 2016 Auflage. TU Verlag, Wien 2016, ISBN 978-3-903024-17-5, Drehwinkelverfahren.