Ein Carillon (/kaʁi'jɔ̃/; niederländischbeiaard) oder Turmglockenspiel ist ein spielbares, großes Glockenspiel, das sich typischerweise in einem Turm oder einem eigens errichteten Bauwerk befindet. Es besteht aus chromatisch oder diatonisch gestimmten Glocken, die mit einer Klaviatur von einem Spieler (Carilloneur, früher auch Glockenist)[1] oder mechanisch (etwa mit einer Walze oder durch elektronische Steuerung) gespielt werden können. Die konzertante Spielbarkeit unterscheidet es von der Spieluhrform des Glockenspiels, seine Größe und die Art der Glocken vom Orchesterröhrenglockenspiel.
In den Niederlanden gibt es den größten Bestand an Glockenspielen weltweit: insgesamt 806 Glockenspiele (davon 158 Carillons nach WCF-Standard). Auch in Belgien hat fast jede Stadt ein Carillon.
Gelegentlich tragen auch Kompositionen für andere Instrumente, die Glockenmotive zitieren oder nachahmen, den Titel Carillon.
Carillon ist die französische Bezeichnung für ein „Turmglockenspiel“. Der Ausdruck bezeichnet auch das in Kapellen und Orchestern gespielte Metallstabglockenspiel und Musikstücke, die für das Glockenspiel bestimmt sind. Der Name ist von „quatrillionem“ abgeleitet, dem rhythmischen Anschlag von vier Glocken, wie er bereits im 14. Jahrhundert vom Turmwächter angewandt wurde.
Seinen Ursprung hat das Carillon in Belgien, den Niederlanden und Nordfrankreich. Das erste gestimmte Carillon wurde 1652 von Pieter und François Hemony gegossen und in Zutphen aufgebaut. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts geriet diese Kunst in Vergessenheit. Erst im späten 19. Jahrhundert wurde die fast vergessene Kunst des Carillonspiels wiederentdeckt. Einen großen Beitrag leistete der belgische Carillonneur (niederländisch: beiaardier) Jef Denyn aus Mechelen, der dort 1922 die Koninklijke Beiaardschool (Königliche Carillonschule) gründete.[2] Sie entwickelte sich zu einer international renommierten Ausbildungsstätte,[3] die die belgische Tradition des Carillonspiels bis heute prägt.[4] Das von dieser Schule ausgehende Programm zur Erhaltung und Weitergabe der Carillon-Kultur wurde 2014 von der UNESCO in ihr Register guter Praxisbeispiele der Erhaltung immateriellen Kulturerbes aufgenommen.[5]
1953 wurde in Amersfoort die Nederlandse Beiaardschool (Niederländische Carillonschule) gegründet.[6] 1935 gab es in den Niederlanden 60 Carillons, 1965 waren es 120 und 1978 bereits gut 200.[7]
Anforderungen
Die World Carillon Federation (WCF) verlangt von einem klassischen Carillon, dass es über mindestens 23 Glocken (chromatisch über zwei Oktaven) verfügt und die Glocken direkt von einem Spieltisch aus mechanisch mit Seilzügen angeschlagen werden können.
Bei modernen Instrumenten kann der Impuls auf den Klöppel auch elektrisch (Elektromagnet) oder pneumatisch (Luftdruck) übertragen werden. Voraussetzung ist, dass auch hier die Klöppel dynamisch (laut und leise) gespielt werden können. Der Spieltisch ist meist mit Stocktasten versehen, manchmal auch mit einer Klaviatur.[8]
„Glockenspiel“ ist ein Überbegriff, der zum Beispiel auch tragbare und von Hand angeschlagene Instrumente umfasst.
Gespielte Stücke können auch gespeichert und später automatisch wiedergegeben werden, beispielsweise mechanisch-traditionell mit dem Welte-System oder über eine Computersteuerung.
Aufbau
Die Klöppel der Glocken oder außerhalb der Glocke angeordnete, federnd gelagerte Hämmer sind mit Zugdrähten und Kipphebeln mit den Tasten des Spieltisches verbunden und werden mechanisch von dem Carilloneur gespielt. Der Spieltisch eines Carillons ist dem einer Orgel ähnlich. Er besteht aus einem Rahmenwerk, in dem die Stöcke für das Manual und die Tasten des Pedals eingebaut sind. Die Stöcke des Manuals sind wie Klaviertasten angeordnet. Die Abstände zwischen den einzelnen Stöcken sind mit 58 mm jedoch wesentlich größer als bei einem Klavier.[9]
Spielweise
Da für das Anschlagen der Glocken eine große Kraft erforderlich ist, wird das Manual eines Carillons normalerweise mit der Faust gespielt, genauer gesagt mit dem mittleren Glied des kleinen Fingers. Die größeren Glocken können zudem nicht nur per Manual, sondern zusätzlich mit den Füßen per Pedal gespielt werden. Bei manchen Carillons können die größten Glocken nur per Pedal gespielt werden.
Aufgrund der Maße der Tasten können pro Hand nur ein bis maximal drei Töne mit Intervallen bis zu einer Quinte gespielt werden. Um beispielsweise zwei Töne gleichzeitig mit einer Hand zu spielen, wird die Hand geöffnet und die Stöcke werden mit Daumen und Zeigefinger heruntergedrückt.
Die Glocken beim Carillon sind nicht mit einer Dämpfung versehen, so dass vor allem die tiefen Glocken sehr lange nachklingen. Somit ist es auch nicht mehr möglich, den Klang einer einmal angeschlagenen Glocke noch zu beeinflussen, bis diese ausgeklungen ist. Des Weiteren klingen die großen Glocken wesentlich lauter und länger als die kleineren Glocken. Zudem ist der Teilton der kleinen Terz deutlich hörbar, was bei lang nachschwingenden Tönen schnell zu Dissonanzen führen kann. Somit erfordert das Carillonspiel eine sehr stark wechselnde Dynamik, die durch die Anschlagstärke der Stöcke reguliert wird, um Dissonanzen zu minimieren.
Glockenspiel im Belfried der Stadt Bergues (Frankreich), 50 Glocken. 14. Jhdt., es wurde am 16. September 1944 zerstört und im Jahre 1961 wieder aufgebaut. UNESCO-Weltkulturerbe, bekannt durch den Film Willkommen bei den Sch’tis
Belfried von Dünkirchen, 50 Glocken, davon 48 Glocken von 1962, 2 weitere zur Vervollständigung der 4 Oktaven und grundlegende Erneuerung der Steuerung 2005, das Vorgänger-Carillon von 1853 ging 1940 nach einem Bombenangriff unter, Wachturm von 1233, der im 15. Jahrhundert zum Glockenturm aufgestockt worden war.
Mit 98 Glocken hat das Kloster von Mafra in Portugal das größte Glockenspiel.
Mit 55 Tonnen Gesamtgewicht hat der Rote Turm in Halle (Saale) das schwerste Glockenspiel.
Welches das älteste Glockenspiel ist, lässt sich nicht sagen, da Glockenspiele oft nicht als Ganzes gebaut, sondern nach und nach entstanden sind. Die älteste Glocke in einem Glockenspiel stammt aus dem 15. Jahrhundert.
Carillon als Werktitel
Der Begriff Carillon ist manchmal der Titel oder ein Titelbestandteil von Kompositionen, die für andere Instrumente bestimmt sind, aber den Glockenklang nachahmen oder typische Carillon-Motive zitieren. Beispiele finden sich vor allem in der Orgelmusik, aber auch bei Stücken für andere Tasteninstrumente oder für Orchester:
Francois Couperin, Le Carillon de Cithère(Pièces de clavecin, Livre 3) für Cembalo
Louis Vierne, Carillon de Westminster (Pièces de Fantaisie, op. 54/6) für Orgel
Louis Vierne, Carillon (Pièces en style libre, op. 31/21) für Orgel
Dank des Engagements von Margarete Schilling gehört die Glocken- und Carillon-Stadt Apolda aktuell (Stand: Dezember 2019) mit vier Stationen zur Strasse der Musik: die Villa Schilling in der Auenstraße 51 mit Sonnenuhrportal und Park (Station 19), das Gebäude der ehemaligen Glockengießerei Franz Schilling Söhne in der Robert-Koch-Straße / Bernhardstraße (Station 20), das Stadthaus Apolda mit Glockenspiel (Station 25) und das GlockenStadtMuseum Apolda (Station 26).[21] Damit wird auch der Glockengießerfamilie Schilling gedacht, die mehr als 40 Carillons schuf und nach Deutschland und in die Welt geliefert hat, so Carillons nach Helsinki (Finnland), Philadelphia (USA), Buenos Aires und Mercedes (Argentinien), Sandefjord (Norwegen) und Klaipėda (Litauen).
Literatur
Alexander Buchner: Vom Glockenspiel zum Pianola. Artia, Prag 1959.
Winfred Ellerhorst: Das Glockenspiel. Bärenreiter, Kassel 1939.
Frank Percival Price: The Carillon. Oxford University Press, London 1933.
Margarete Schilling: Glocken und Glockenspiele. 2. Auflage. Greifenverlag, Rudolstadt 1985.
Margarete Schilling: Das Magdeburger Glockenspiel. Rat der Stadt Magdeburg, Magdeburg 1979.
Eugen Thiele: Das Glockenspiel der Parochialkirche zu Berlin, Berlin 1915 (Nachdruck in: Neue Töne für das alte Berlin: die Parochialkirche und ihr Glockenspiel, Neuauflage der Gedenkschrift von 1915 mit neuem Anhang, Berlin 2012).
↑vgl. Abschnitt IV. Die Glockenisten in Eugen Thiele: Das Glockenspiel der Parochialkirche zu Berlin, Berlin 1915; Nachdruck in: Neue Töne für das alte Berlin: die Parochialkirche und ihr Glockenspiel, Neuauflage der Gedenkschrift von 1915 mit neuem Anhang, Berlin 2012, S. 75–84 (S. 65–74 der Originalausgabe)
↑Wim Alings: Kentekens in stad en land. Nefkens, Utrecht 1978, S. 38–39.
↑Zu den Besonderheiten der belgischen und der niederländischen Traditionen des Carillonspiels siehe Wim Alings: Kentekens in stad en land. Nefkens, Utrecht 1978, S. 39.