Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter GesundheitsproblemeDie Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und oft kurz auch als Internationale Klassifikation der Krankheiten bezeichnet. Die aktuelle, international gültige ICD-11 wurde nach Veröffentlichung einer ersten Version im Juni 2018[1] von der Weltgesundheitsversammlung im Mai 2019 verabschiedet und ist am 1. Januar 2022 in Kraft getreten.[2] Die Einführung in Deutschland wird ab diesem Zeitpunkt noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen.[3] Die zuvor gültige Version ICD-10 erschien erstmals 1994 und wurde zuletzt 2019 aktualisiert. Eine Einschränkung der ICD-10 ist, dass sie Erkrankungen allein über die individuelle Symptomatik und Diagnose definiert. Der aktuelle Krankheitsstatus (Folgen der Erkrankung für die Funktionsfähigkeit des Patienten etc.) wird dagegen nicht berücksichtigt – obwohl dieser oft sehr bedeutsam für die Behandlung und Einschätzung der Schwere der Gesundheitsbeeinträchtigung ist. Daher wurde als Erweiterung die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) entwickelt, welche die ICD um diese Aspekte ergänzt.[4] In Tumor- oder Krebsregistern werden Tumordiagnosen nach der ICD-O verschlüsselt.[5] Im deutschsprachigen RaumIn Deutschland sind die an der vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Psychotherapeuten und die von diesen geleiteten Einrichtungen verpflichtet, Diagnosen nach ICD-10-GM (German Modification) zu verschlüsseln. Rechtliche Grundlage für diese Diagnosenverschlüsselung ist § 295 Absatz 1 Satz 2 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (Abrechnung ärztlicher Leistungen). Verbindlich für die Verschlüsselung ist seit dem 1. Januar 2024 die vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM, ehemals Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI) herausgegebene ICD-10-GM Version 2024.[6] Österreich verwendet aktuell den ICD-10 BMASGK 2020.[7] Ein Wechsel zu ICD-11 wird angestrebt, sobald eine ins Deutsche übersetzte Fassung der neuen Version vorliegt.[8] In der Schweiz findet die German Modification (ICD-10-GM) Anwendung und wurde dafür auch ins Französische und Italienische übersetzt.[9] Psychische StörungenZur Diagnose psychischer Störungen gibt es die Internationale Klassifikation psychischer Störungen (fünftes Kapitel der ICD-10) und parallel das DSM-5 (ein psychiatrisches Klassifikationssystem der USA). Beide sind weitgehend kompatibel, wodurch eine Umkodierung von Diagnosen zwischen den Systemen möglich wird. Die WHO gibt dazu auch einige Handbücher heraus, z. B. die klinisch-diagnostischen Leitlinien („blaues Buch“) und die Diagnostische Kriterien für Forschung und Praxis („grünes Buch“).[10] GeschichteBereits 1593 wurden in England erstmals Taufen und Beerdigungen erfasst; bis ins Jahr 1837 wurde in London die Todesfallstatistik Bills of mortality geführt. John Graunt analysierte diese Statistiken und veröffentlichte 1662 mit seiner „Natural and Political Observations Made upon the Bills of Mortality“ erste statistisch basierte Untersuchungen von Todesfallzahlen. Systematische Klassifikationen von Krankheiten und Todesursachen wurden bereits im 18. Jahrhundert von Pionieren wie François Boissier de Sauvages de Lacroix („Nosologia methodica“, 1763), Carl von Linné („Genera Morborum“, 1763) und William Cullen („Synopsis Nosologiae Methodicae“, 1785) vorgestellt.[11] Problematisch war das Fehlen einer einheitlichen Klassifikation und die mangelnde Weiterentwicklung, um dem medizinischen Fortschritt zu entsprechen. Eine erste Nomenklatur von Krankheiten entwickelten im 19. Jahrhundert gemeinsam der englische Epidemiologe und Mitbegründer der medizinischen Statistik William Farr (1807–1883) und der Genfer Arzt Marc d’Espine, die später Grundlage der ersten ICD-Version werden sollte.[12] Eine weitere wichtige Vorarbeit leistete Jacques Bertillon ab 1893 mit der Internationalen Nomenklatur der Todesursachen („Bertillon-Klassifikation“).[13] Die erste Version des ICD wurde 1900 von der französischen Regierung herausgegeben, die dann in regelmäßigen Abständen überarbeitet und erweitert wurde. Von der vierten Version (ICD-4 von 1929) bis zur ersten Nachkriegsversion (der ICD-6 von 1948) war die Gesundheitssektion des Völkerbundes Herausgeber. Bis dahin war die Klassifikation ausschließlich auf Krankheiten beschränkt, die als Todesursachen infrage kamen.[11] Seit der sechsten Version wird die ICD von der WHO herausgegeben und dort waren dann erstmals auch nicht zum Tode führende Krankheiten und Verletzungen enthalten, u. a. ein gesondertes Kapitel über psychische Störungen. Die Revision für das ICD-7 erfolgte 1955 in Paris und für das ICD-8 im Jahr 1965 in Genf. Bis zur ICD-9 von 1976 erfolgten etwa alle zehn Jahre weitere überarbeitete Ausgaben, da aufgrund medizinischer Fortschritte Änderungen und Ergänzungen erforderlich wurden. Die Arbeit an der aktuellen zehnten Ausgabe begann 1983 und wurde 1992 abgeschlossen. Die derzeit (2019) gültige internationale Ausgabe ist die ICD-10 in der Version von 2019.[13][14] Einige Staaten wie Deutschland, Österreich, die USA und Australien verwenden länderspezifische ICD-Erweiterungen oder Spezialausgaben. In den USA sind die an klinische Bedürfnisse angepassten Versionen ICD-10-CM (clinical modification) und ICD-10-PCS (procedure coding system) im Einsatz.[15] In Österreich wird die Version ICD-10 BMASGK 2020 verwendet.[7] Situation in einzelnen LändernDeutschlandAllgemeinIn der DDR erfolgte ab 1952 die Kodierung der Diagnosen sowohl bei stationärer als auch bei ambulanter Behandlung nach jeweils gültiger Klassifikation als Eintrag in das SV-Heft. Dabei wurde 1952–1967 ein eigenes, von der ICD-6 bzw. ICD-7 in Teilen abweichendes Verzeichnis der Krankheiten und Todesursachen für Zwecke der Medizinalstatistik verwendet. Mit der Einführung von ICD-8 kehrte man jedoch zur internationalen Klassifikation zurück.[16] In der Bundesrepublik Deutschland wurde 1986 erstmals die ICD-9 zur Diagnosenverschlüsselung in Krankenhäusern verpflichtend eingesetzt.[17] Eine deutschlandspezifische, von der WHO-Version abweichende Version (ICD-10-SGB-V) des seinerzeit bereits seit Jahren umstrittenen[18] Diagnosecodes ICD-10 wurde zunächst von 2000 bis 2003 eingesetzt. Der ICD ist gemäß § 295 (1) und § 301 (2) Fünftes Buch Sozialgesetzbuch für Deutschland rechtsverbindlich und zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung anzuwenden. Dabei kann in Deutschland der ICD-10-Schlüssel im ambulanten Bereich durch einen angefügten Buchstabencode ergänzt werden:
ICD-10-GMSeit 2004 heißt die deutsche ICD-Ausgabe ICD-10-GM[19] (GM für englisch German Modification ‚Deutsche Modifikation‘). Sie ist eine Adaption der Vierstelligen Ausführlichen Systematik (VAS) der deutschsprachigen ICD-10-WHO, der sie in Aufbau und Struktur entspricht.[6] Sie wurde anfangs, ebenso wie der Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS), vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) weiterentwickelt und herausgegeben, das 2020 im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgegangen ist. In dessen per Internet zugänglichen Bereich der Kodiersysteme/Klassifikation sind auch ältere, in Ost- und West-Deutschland verwendete ICD-Versionen archiviert und einsehbar. Da die ICD-GM nebst Anpassungen durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch Vorschläge von Fachgesellschaften, Berufsverbänden, Krankenhäusern und Krankenkassen berücksichtigt, welche zu ICD-Code-Neuaufnahmen, Streichungen, Klarstellungen und redaktionellen Anpassungen führen, gibt das BfArM im Gegensatz zur WHO jedes Jahr eine neue rechtsverbindliche Version heraus, das heißt:
Nach den § 295 Abs. 1 und § 301 Abs. 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch sind in Deutschland Vertragsärzte, Vertragspsychotherapeuten und Krankenhäuser zur Diagnoseverschlüsselung nach ICD verpflichtet. Wurde dies in der Anfangszeit meist durch Ärzte gemacht, wird diese Aufgabe heute auch von Kodierfachkräften wahrgenommen. Dabei sind Krankenhäuser zudem verpflichtet, verschiedenste Daten all ihre stationären Behandlungsfälle inklusive aller relevanten Diagnosen je Fall in regelmäßigen Abständen in Fom des „Paragraph 21 Datensatzes“[21] auch dem Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) zu übermitteln. Der Paragraph 21 Datensatz ist dabei benannt nach dessen Gesetzesgrundlage dem § 21 KHEntgG. Hintergrund dessen ist insbesondere, dass mit Einführung des G-DRG-Systems in Deutschland i. d. R. aus den ICD- und den OPS-Codes je stationärem Krankenhausfall eine Diagnosis Related Group (DRG, Diagnosebezogene Fallgruppe) errechnet wird. Somit ist hierüber eine fall- und diagnosebezogene Abrechnung im stationären Krankenhausbereich vorgegeben. Die ICD-10-GM sind also zusammen mit der OPS-Verschlüsselung Grundlage des G-DRG-Systems für Krankenhäuser, das 2003 als ein Teil der Krankenhausfinanzierung in Deutschland eingeführt wurde. Ziel dieses neuen Systems war es, trotz zunehmender Belastung des Gesundheitswesens durch die demographische Entwicklung eine Steuerungsmöglichkeit der Kostenentwicklung zu erhalten. SchweizSeit 1. Januar 2012 ist die Benutzung der deutschlandspezifischen, von der WHO-Version abweichenden Version ICD-10-GM für die Kodierung der Diagnosen für alle Leistungserbringer in der ganzen Schweiz obligatorisch.[22] Zuvor wurde in Ausnahmefällen noch die ICD-10-WHO verwendet. Seit 1. Januar 2022 ist die ICD-10-GM Version 2022 in der Schweiz gültig.[23] AufbauDie ICD-10 ist ein einachsiges und monohierarchisches Klassifikationssystem und liegt in drei Bänden vor:
Sie gliedert sich in:
Diese „untergeordneten fünfstelligen Schlüsselnummern“ dürfen im ambulanten Bereich trotz des dadurch entstehenden Informationsverlustes durch die „übergeordneten vierstelligen Schlüsselnummern“ ersetzt werden.[24] Dort spricht man vom sogenannten Fünfsteller. Die Notation ist alphanumerisch. Die erste Stelle ist ein Buchstabe, die Stellen zwei bis fünf enthalten Ziffern. Die vierte Stelle ist von der dritten Stelle durch einen Punkt abgetrennt. Dieser Punkt muss im Schriftwechsel mit der Deutschen Rentenversicherung weggelassen werden. Die Bereiche U00–U49 bzw. U50–U99 sind für Erweiterungen oder Forschungszwecke reserviert. Die ICD-10 enthält:
Die Einteilungs-Kriterien wechseln zwischen Topographie, Ätiologie und Pathologie. Die Klassifikation selbst hat keine temporalen oder dynamischen Aspekte, sondern umfasst lediglich eine Beschreibung zeitinvarianter Merkmale.[25] Das systematische Verzeichnis enthält eine Zusatzklassifikation (M-Achse), mit der Neubildungen histologisch klassifiziert werden können. Hierbei handelt es sich um einen sechsstelligen Schlüssel, der mit dem Buchstaben „M“ beginnt. Darauf folgen vier Ziffern zur Codierung der Neubildung, gefolgt von einem Schrägstrich (/) und einer Ziffer zur Codierung des pathologischen Verhaltens (zum Beispiel: M8051/3: verruköses Karzinom o. n. A.). Der Aufbau der M-Achse entspricht weitgehend der Klassifikation nach ICD-O bzw. nach SNOMED. DoppelklassifikationEinige Erkrankungen werden in ICD-10 mit einer Doppelklassifikation abgebildet. Die primäre Einteilung erfolgt nach der Ätiologie, die sekundäre nach der Organmanifestation. In der Systematik wird der Primärschlüssel mit einem Kreuz (†) abgebildet, der Sekundärschlüssel mit einem Stern (*). Diese Notation wird als Kreuz-Stern-System bezeichnet. Beispiel: Der ICD-10-Code A17.0† (tuberkulöse Meningitis) ist bezüglich der Ätiologie eine Infektionskrankheit, und bezüglich der Organmanifestation eine Krankheit des Nervensystems (G01*). Beispiel: Ein Augenarzt, der eine diabetische Retinopathie behandelt und nicht die Grunderkrankung (Diabetes mellitus), ist vorrangig am klinischen Sekundärschlüssel interessiert:
Die Kreuz-Notation wird für statistische Zwecke verwendet. Die Stern-Notation hat einen größeren klinischen Bezug und wird u. a. für die Leistungsverrechnung verwendet. KritikIn Deutschland hätte bereits 1996 die vertragsärztliche Abrechnung ausschließlich auf Basis der Verschlüsselung nach ICD-10 erfolgen sollen. Nach massivem Widerstand aus der Ärzteschaft wurde die ICD-10 zunächst als freiwillige Option eingeführt, die Verwendung einer überarbeiteten Version ist seit 2000 Pflicht. Hauptkritikpunkte an der ICD sind:[10]
Des Weiteren wird kritisiert, dass ICD zur Pathologisierung von Homosexualität und Bisexualität (1990 aus ICD-9 gestrichen) sowie Sexuelle Perversion (in ICD-11 wird von Paraphilien gesprochen) und „Transsexualität“ ( nicht mehr in ICD-11 enthalten) beitrug oder noch beiträgt. Frankreich verbot daher per Dekret die Einstufung transgeschlechtlicher Menschen unter F64.0 als Stigmatisierung und Diskriminierung. Der Europarat hat in seiner Resolution 2048 vom 22. April 2015 für die rechtliche und soziale Gleichstellung von Transpersonen[27] die 47 Mitgliedsstaaten unter anderem dazu aufgefordert, alle Einstufungen als geistige Störungen in nationalen Klassifikationen zu streichen und die Streichung auch bei der WHO zu fordern.[28] Das Europaparlament hatte bereits 2011 die Europäische Kommission und die WHO aufgefordert, Störungen der Geschlechtsidentität von der Liste der psychischen und Verhaltensstörungen zu streichen und in den Verhandlungen über die 11. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) eine nicht pathologisierende Neueinstufung sicherzustellen.[29] WeblinksBundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)
Weltgesundheitsorganisation (WHO):
Einzelnachweise
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