Das Lager Föhrenwald wurde in der Zeit des Nationalsozialismus als Mustersiedlung für Beschäftigte der nahen Rüstungsbetriebe durch die Nationalsozialisten errichtet. Zu Kriegsende wurde das Lager kurzzeitig als Bleibe für die Überlebenden des Todesmarsches des KZ Dachau genutzt, welcher hier endete. Anschließend wurde es zu einem DP-Lager für jüdische Überlebende des Holocausts, den sogenannten Displaced Persons. Als 1957 die letzten jüdischen Bewohner das Lager verlassen hatten, wurde es zur Unterbringung deutscher Flüchtlinge und Heimatvertriebener aus den Staaten des späteren Warschauer Paktes im östlichen Europa genutzt. 1958 wurde die Siedlung in Waldram umbenannt. Es ist heute eine Wohnsiedlung und Stadtteil der Stadt Wolfratshausen in Oberbayern.[1]
Erbaut 1939, war die Anlage zunächst eine Wohnsiedlung in Einfamilien- und Reihenhaus-Bauweise zur Unterbringung von Beschäftigten der Sprengstoff- und Munitionsfabriken der Deutschen Sprengchemie GmbH (DSC) und der Dynamit Actien-Gesellschaft (DAG) im Staatsforst von Wolfratshausen.[2] Bei den Beschäftigten handelte es sich um Angehörige des Reichsarbeitsdienstes in der Zeit des Nationalsozialismus, Zwangsarbeiter sowie um zivile Angestellte, die vorwiegend in der Verwaltung tätig waren. Neben dem Lager Föhrenwald existierten in der Nähe noch die Lager Buchberg auf der heute sogenannten Böhmwiese gegenüber dem Rathaus von Geretsried sowie Stein, einem heutigen Stadtteil von Geretsried. Da der Umgang mit Sprengstoff in den Fabriken zu zahlreichen Unfällen führte, wurde schon früh im Lager eine Krankenstation eingerichtet, welche später zu einem Krankenhaus ausgebaut wurde. Dieses wurde nach der Umbenennung der Siedlung in „Waldram“ aufgelöst.
Lager für befreite Zwangsarbeiter und Überlebende des Todesmarsches von Häftlingen des KZ Dachau
Am Kriegsende trieben die Nationalsozialisten bei der Räumung des KZ Dachau die noch lebenden Häftlinge von Dachau Anfang Mai 1945 Richtung Alpen. Dieser Todesmarsch endete bei Wolfratshausen durch die anrückenden amerikanischen Truppen. Um die befreiten noch lebenden Häftlinge unterzubringen, wurden kurzzeitig die Gebäude des Lagers als Bleibe genutzt[3], in denen die amerikanische Armee auch die befreiten Zwangsarbeiter der aufgelösten Rüstungsbetriebe versorgte.
Lager für Displaced Persons
Aus dem Lager Föhrenwald entstand nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein Auffanglager für so genannte Displaced Persons (DP), die der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik entkommen waren. Daher wird das Lager Föhrenwald in der Literatur auch als DP-Lager bezeichnet.
Mit der Zeit kamen immer mehr überlebende Juden nach Föhrenwald, so dass das Lager im September 1945 von der amerikanischen Militärverwaltung zum „Jewish Displaced Person Center“ erklärt wurde[4]. Von den dort Lebenden wurde die Siedlung „Schtetl“ genannt[5]. Gesprochen wurde in der Siedlung Jiddisch[6], das nahezu alle Bewohner sprachen. Für Deutsche war der Zutritt zum gesamten „Schtetl“ verboten. Bis November 1951 stand das Lager unter amerikanischer Verwaltung.[7] Das DP-Lager Föhrenwald gilt als letztes Schtetl klassischer Art in Europa.
Ab November 1945 übernahm eine internationale Hilfsorganisation, die UNRRA, die Verwaltung aller DP-Lager in der amerikanischen Besatzungszone.[8] Das Lager Föhrenwald wurde danach in weitgehender Selbstverwaltung von einem lokalen Rat unter dem Vorsitz von Henry Cohen geleitet. Diese Veränderungen standen im Zusammenhang mit der Umsetzung der Vorschläge des Harrison-Reports,[9] der die allgemeine Lage in den DP-Lagern in Deutschland und Österreich scharf kritisiert hatte. Zwischen 1946 und 1948 war Föhrenwald mit ungefähr 5.600 Bewohnern eines der größten DP-Lager in der amerikanischen Besatzungszone, welches überdies europaweit am längsten bestand.[10][11]
Für die meisten Bewohner des Lagers Föhrenwald kam eine Repatriierung in ihre Herkunftsländer oder ein Verbleiben in Deutschland nicht in Frage. Die Mehrheit bemühte sich darum, nach Israel (zunächst noch britisches Mandatsgebiet) beziehungsweise in die Vereinigten Staaten oder Kanada auszuwandern. Der Zeitzeuge Majer Szanckower, welcher als Kind im Lager lebte, berichtete von der Einstellung der Bewohner, die das Lager als „Wartesaal“ betrachteten.[12]
Neben denjenigen, die noch auf eine Ausreise warteten, mussten zwischen 1949 und 1953 insgesamt circa 3.500 sogenannte „Rückwanderer“ zeitweise in Föhrenwald untergebracht werden. Dies waren Menschen, die bereits in andere Länder – zumeist nach Israel – ausgewandert waren, die sich jedoch dort keine Existenz hatten aufbauen können oder aus gesundheitlichen Gründen zurückkehren mussten. Diese Menschen waren daher dauerhaft auf Unterstützung des American Joint Distribution Committee und die deutsche Fürsorge angewiesen.[13]
Dem DP-Lager Föhrenwald angegliedert war auch eine Barackensiedlung nahe Königsdorf, das ehemalige Hochlandlager. Dort wurden von der zionistischen und paramilitärischen Hagana unter Billigung der amerikanischen Besatzungsmacht Personen zu Offizieren ausgebildet, welche dabei auf die erwartbaren Auseinandersetzungen mit den Palästinensern um die Staatsgründung Israels vorbereitet wurden.[14]
Am 1. Dezember 1951 kam das Lager Föhrenwald unter deutsche Verwaltung und wurde zum „Regierungslager für heimatlose Ausländer“ erklärt[15]. Das DP-Lager Föhrenwald wurde offiziell 1956 aufgelöst, die letzten 700 bis 800 jüdischen Bewohner mussten das Lager jedoch erst im Februar 1957 zwangsweise verlassen. Sie wurden auf neun deutsche Städte verteilt, so zum Beispiel nach München (492 Personen), Düsseldorf (73), Köln (25), Wiesbaden (23), Stuttgart (19), Hamburg (18) und Nürnberg (10).[16] 125 Personen übersiedelten nach Frankfurt am Main und bezogen im ehemals jüdisch geprägten Frankfurter Ostend zwei neu errichtete Wohnblocks in der Waldschmidtstraße.[17] 2017 thematisierte eine Ausstellung im Hochbunker an der Friedberger Anlage in Frankfurt, dem früheren Standort der Synagoge Friedberger Anlage, den Weg der jüdischen DPs von Föhrenwald nach Frankfurt.[18]
Infrastruktureinrichtungen während der Zeit als jüdisches DP-Lager bis zur Umbenennung
Krankenhaus, aufgeteilt auf zwei Gebäude: es wurde schon in der NS-Zeit errichtet, da es in den Munitionsfabriken oft zu Unfällen kam, welche vor allem durch den verarbeiteten Sprengstoff verursacht wurden[19][20][21][22]
Rathaus mit Selbstverwaltung mit einem lokalen Rat (vergleichbar Gemeinderat) unter dem Vorsitz von Henry Cohen
Lagerpolizei
Kindergarten
Poststation
Volksschule
Berufsschule
Bibliothek
Theater
Gemeinschaftshaus für Versammlungen und Feiern, hier war auch die Hauptsynagoge untergebracht[23]
Umwandlung zur Wohnsiedlung für Flüchtlinge und Heimatvertriebene
Im Oktober 1955 übernahmen das durch Kardinal Joseph Wendel gegründete katholische Diözesansiedlungswerk und die Erzdiözese München und Freising das gesamte Gelände samt der Wirtschaftsgebäude.[1][30] Das Siedlungswerk ließ alle Gebäude renovieren und mit einem Badezimmer ausstatten. Damit verlor das bisherige zentrale Gebäude, das gemeinschaftliche Badehaus, seine Funktion.
Ab April 1956 wurden auf dem Gelände immer mehr geflüchtete und heimatvertriebene, zumeist katholische Familien angesiedelt, so dass bis Anfang 1957 Displaced Persons und deutsche Heimatvertriebene und Flüchtlinge gemeinsam auf dem Gelände des Lagers Föhrenwald lebten.
Das Diözesansiedlungswerk verkaufte nach und nach die einzelnen Gebäude samt den Grundstücken zu günstigen Konditionen an Flüchtlinge bzw. Heimatvertriebene aus den Gebieten in Osteuropa und an Wolfratshauser Familien. Um die Lagerproblematik mit der Assoziation von Zwang (zuerst Zwangsarbeiter, später Displaced Persons) zu überwinden, stellte das Diözesansiedlungswerk bei der Stadt Wolfratshausen 1956 den Antrag auf Umbenennung der Siedlung in „Waldram“. Diese reichte den Antrag bei der Regierung von Oberbayern als Rechtsaufsichtsbehörde für Namensänderungen ein. Die Bayerische Staatsregierung genehmigte mit Wirkung vom 7. November 1957 die Umbenennung in Waldram, welches heute ein Stadtteil von Wolfratshausen ist.[31]
Die Flächen der ehemaligen Munitionsfabriken sind heute Teil des Stadtgebietes von Geretsried (siehe dort Pfad der Geschichte)[32]. Die Hauptsynagoge wurde in einer Nacht- und Nebelaktion ohne ausreichende Absprachen mit der jüdischen Gemeinde in ein katholisches Kirchengebäude transformiert: Die jüdischen Sakralgegenstände wie die Thora-Rollen und auch das Ewige Licht wurden entweiht, verschwanden dabei, wurden zerstört oder landeten auf dem Müll. Der Synagogendiener, auf Jiddisch Schammes, der oft in der Synagoge auf einer Bank übernachtet hatte, wurde darüber „wahnsinnig“.[30]
Museum
Seit 2018 erzählt das Museum Erinnerungsort Badehaus über die Geschichte des Lagers Föhrenwald.
Alois Berger: Föhrenwald, das vergessene Schtetl. Ein verdrängtes Kapitel deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte, Piper München 2023, ISBN 978-3-492-07106-2.[33]
Joachim Braun: Ende und Neubeginn. Die NS-Zeit im Altlandkreis Wolfratshausen. Wolfratshausen 1995.
Michael Brenner: Geschichte der Juden von 1945 bis zur Gegenwart. Beck, München 2012, ISBN 978-3-406-63737-7.
Bürger fürs Badehaus Waldram-Föhrenwald e. V. (Hrsg.): LebensBilder – Porträts aus dem jüdischen DP-Lager Föhrenwald. Eigenverlag, Wolfratshausen 2020, ISBN 978-3-00-066745-9.
Jutta Fleckenstein, Tamar Lewinsky: Juden 45 / 90 von da und dort – Überlebende aus Osteuropa. Beck, München 2011, ISBN 978-3-942271-47-9.
Lea Fleischmann: Dies ist nicht mein Land. Eine Jüdin verlässt die Bundesrepublik Heyne, München 1980. ISBN 3-453-43076-X.
Hans-Peter Föhrding, Heinz Verfürth: Als die Juden nach Deutschland flohen. Ein vergessenes Kapitel der Nachkriegsgeschichte. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, ISBN 978-3-462-04866-7.
Geretsrieder Hefte, hrsg. vom Arbeitskreis Historisches Geretsried, Geretsried 2008ff.
Eva Greif: Der Rest der Geretteten. Das Krankenhaus Föhrenwald. In: Ärzte, Hexen, Handaufleger. Medizingeschichte im Isar- und Loisachtal. Hrsg. vom Historischen Verein Wolfratshausen e. V., Wolfratshausen 2014, OCLC898027800.
Holger Köhn: Die Lage der Lager. Displaced Persons-Lager in der amerikanischen Besatzungszone Deutschland. Klartext, Essen 2012, ISBN 978-3-8375-0199-5.
Sybille Krafft: Fluchtpunkt Föhrenwald. In: LebensBilder: Porträts aus dem jüdischen DP-Lager Föhrenwald. Hrsg. vom Verein Bürger fürs Badehaus Waldram-Föhrenwald e. V., Wolfratshausen, 2020, S. 13 ff.
Sybille Krafft: Unterm Joch. Zwangsarbeit im Wolfratshauser Forst. Hrsg. vom Historischen Verein Wolfratshausen e. V., Eigenverlag, Wolfratshausen 2008, OCLC645292068.
Beno Salamander: Kinderjahre im Displaced-Persons-Lager Föhrenwald. Bayerische Landeszentrale für Politische Bildungsarbeit, München / Jüdisches Museum München, 2011, DNB1129904229.
Joachim Schroeder: Das DP-Lager Föhrenwald 1945–1951. In: Julius H. Schoeps (Hrsg.): Leben im Land der Täter : Juden im Nachkriegsdeutschland (1945–1952). Jüdische Verlags-Anstalt, Berlin, 2001, ISBN 3-934658-17-2, S. 47–62.
Andreas Wagner: Todesmarsch. Die Räumung und Teilräumung der Konzentrationslager Dachau, Kaufering und Mühldorf Ende April 1945. Panther-Verlag Tietmann, Ingolstadt 1995, ISBN 3-9802831-7-8.
Hörfunkbeiträge über das Lager Föhrenwald
Sybille Krafft: Draußen waren die andern. Kinder im Lager Föhrenwald. In: Bayern 2-Sendung „Reihe: Land und Leute“, 27. Januar 2013.[34]
Befreit und Vergessen: Dokumentarfilm von Henriette Schroeder, Joachim Schroeder und Werner Kiefer, 1995
Weiterleben! Sechzig Jahre jüdisches Leben in Deutschland: Dokumentarfilm von Henriette Schroeder für Bayerischer Rundfunk (BR) 2009.
Die Kinder vom Lager Föhrenwald: Dokumentarfilm von Dr. Sybille Krafft, gedreht im Auftrag des Bayerischen Fernsehens (BR), 2013
Damals im Isartal. Waldram und seine Nachbarn: Dokumentarfilm von Dr. Sybille Krafft erstellt für das Bayerische Fernsehen (BR/ARD) in der Reihe Unter unserem Himmel; 2018
Das Zelig: Dokumentarfilm von Tanja Cummings, 2020[37]
Von Zeit und Hoffnung: Dokumentarfilm von Sebastian d’Huc. Zeitzeugen, die heute in Israel leben erzählen von Föhrenwald. Dabei kommen vier junge Deutsche mit ihnen und jungen Israelis ins Gespräch. Im Auftrag des Museums Erinnerungsort BADEHAUS, 2020
Als das Grauen vor die Haustür kam: über den Todesmarsch: Dokumentarfilm von Max Kronawitter, 2021
↑Wolfgang Schöl: Das neue Leben der Geschundenen. In: Süddeutsche Zeitung vom 28. Oktober 2005, Seite 38 zum 60. Jahrestag der Einrichtung des DP-Lagers Föhrenwald.
↑Hans-Peter Föhrding, Heinz Verfürth: Als die Juden nach Deutschland flohen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, S. 260ff.
↑Hannes Hintermeier: Woher kommt dieser blinde Fleck in der eigenen Geschichte? Schikaniert von der Polizei, bedroht von Seuchen und Hunger: Alois Berger rekapituliert das Schicksal der letzten jüdischen Siedlung Europas. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. Mai 2023, S. 12.
↑Hanning Voigts: Der Weg jüdischer „Displaced Persons“. In: Frankfurter Rundschau, 5. November 2017. Zu dieser Ausstellung ist ein Katalog im Buchhandel erhältlich: Initiative am 9. November / Iris Bergmiller-Fellmeth / Elisabeth Leuschner-Gafga (Hrsg.): Displaced Persons – Vom DP-Lager Föhrenwald nach Frankfurt am Main. Brandes & Apsel, Frankfurt am Main 2019, ISBN 978-3-95558-268-5. Siehe hierzu auch die Kurzporträts einiger Ex-Föhrenwalder in: Hans-Peter Föhrding, Heinz Verfürth: Als die Juden nach Deutschland flohen. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, S. 273 ff.