Leo Jogiches entstammte einer reichen jüdischen Kaufmannsfamilie[1] aus Wilna, der Hauptstadt des Gouvernements Wilna im Russischen Kaiserreich. Schon in jungen Jahren engagierte er sich in Wilna für die sozialrevolutionären Volkstümler im Kampf gegen die Zarenherrschaft, wofür er 1889 zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten verurteilt wurde. Nach seiner Haftentlassung sollte er als russischer Untertan Militärdienst in Turkestan leisten und floh deshalb Anfang 1890 in die Schweiz, wo er an der Universität Zürich studierte und die Schweizer Staatsbürgerschaft beantragte. Jogiches suchte Kontakt zu dem ebenfalls im Exil lebenden Marxisten Georgi Plechanow. Zwei Jahre später überwarf er sich jedoch mit ihm, was zu einem Parteigerichtsverfahren führte. Die Anhänger Plechanows griffen Jogiches scharf an, auch Friedrich Engels äußerte sich in einem Brief negativ über ihn.
Während des Ersten Weltkriegs lebte Jogiches in Berlin im Untergrund. In der Novemberrevolution von 1918 war er neben Franz Mehring, Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und anderen Mitbegründer des Spartakusbundes und der aus ihm zusammen mit anderen kommunistischen Gruppierungen am 1. Januar 1919 hervorgegangenen KPD.
Nach der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 durch rechtsextreme Freikorpsleute übertrug man Jogiches den Parteivorsitz der KPD. Jogiches ermittelte die Namen der Mörder und deckte die Einzelheiten der Ermordung auf.[3] Anfang März 1919 wurde er in seiner Wohnung in Berlin-Neukölln verhaftet und am 10. März 1919 im Untersuchungsgefängnis Berlin-Moabit von dem Kriminalwachtmeister Ernst Tamschick durch einen Schuss in den Hinterkopf ermordet.[4]Käthe Kollwitz fertigte am 16. März im Leichenschauhaus eine Zeichnung von Jogiches.[5]
Leo Jogiches hatte sich wie die führende Theoretikerin der KPD, Rosa Luxemburg, gegen eine Führungsrolle der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) innerhalb der Komintern gewandt. Auch Jogiches’ Nachfolger im KPD-Parteivorsitz, Paul Levi, sah sich im Februar 1921 wegen seiner kritischen Haltung gegenüber der Komintern-Leitung zum Rücktritt gezwungen. Wenige Jahre später geriet die KPD in immer stärkere Abhängigkeit von Moskau.[6]
Karl Retzlaw, der ihn gut kannte, schrieb in seiner Biografie: „Jogiches war eine Persönlichkeit, die auf alle, die ihn kannten, einen unauslöschlichen Eindruck machte. Er war ein Typ, wie ihn die deutsche Arbeiterbewegung niemals hervorgebracht hat. Er war 52 Jahre alt, wohlhabend, und sein Leben wäre auch als Privatgelehrter ausgefüllt gewesen. Sein Temperament liess ihn gegen soziales Unrecht, Militarismus und Krieg kämpfen. Jogiches war kein gebürtiger Deutscher.“[2]
Film
In der Filmbiografie Rosa Luxemburg aus dem Jahr 1986 wird Jogiches vom polnischen Schauspieler Daniel Olbrychski dargestellt.
Die Betriebsberufsschule (BBS) des VEB Datenverarbeitungszentrum in Berlin, Berufsbildungseinrichtung wurde nach Leo Jogiches benannt.
Literatur
(in der Reihenfolge des Erscheinens)
Clara Zetkin: Revolutionäre Kämpfe und revolutionäre Kämpfer 1919. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Leo Jogiches, Eugen Leviné, Franz Mehring und all den treuen, kühnen revolutionären Kämpfern und Kämpferinnen des Jahres 1919 zum Gedächtnis. Verlag der Kommunistischen Internationale, Petrograd 1920
Rosa Luxemburg: Listy do Leona Jogichesa-Tyszki. Listy zebrał słowem wstępnym i przypisami (Briefe an Leon Jogiches-Tyszka. Herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Feliks Tych). Książka i Wiedza, Warszawa 1968–1971
Rosa Luxemburg: Briefe an Leo Jogiches. Mit einer Einleitung von Feliks Tych. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main 1971, ISBN 3-7632-1497-6
Ulrich Cartarius: Zum Einfluß der politischen Arbeiterbewegung auf die Entwicklung der „Radikalen Linken“ im Deutschland des ersten Weltkrieges. Leo Jogiches-Tyszka contra Lenin. In: Zeitschrift für Ostforschung. Jg. 29, 1980, Heft 2/3, S. 193–223.
Feliks Tych: Leo Jogiches Kritik an der bolschewistischen Partei. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Heft 3/1991.
Frederik Hetmann: Leo Jogiches und Rosa Luxemburg. Bemerkungen zu einer schwierigen Liebe. In: Kristine von Soden (Hrsg.): Rosa Luxemburg (= Elefanten-Press 570 BilderLeseBuch). Aktualisierte Neuausgabe. Elefanten-Press, Berlin 1995, ISBN 3-88520-570-X, S. 44–55.
↑ abKarl Retzlaw: Spartakus - Aufstieg und Niedergang, Erinnerung eines Parteiarbeiters, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1971, S. 115, ISBN 3-8015-0096-9
↑Karl Retzlaw: Spartakus - Aufstieg und Niedergang, Erinnerung eines Parteiarbeiters, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1971, S. 134, ISBN 3-8015-0096-9
↑Volker Ulrich: Die Revolution von 1918/19, Verlag C.H. Beck 2009, S. 91
↑Tagebucheintragung vom 16. März 1919. In: Käthe Kollwitz.Bekenntnisse. Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig, 1981, S. 39
↑Vgl. Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, 2 Bände, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1969.