Die Pocket Opera Company (POC) wurde 1974 gegründet und ist Deutschlands ältestes, freies und mobiles Musiktheater mit Sitz in Nürnberg. Ihr Markenzeichen sind Opernaufführungen an ungewöhnlichen Spielorten.
Die Kultur der 1970er Jahre in Nürnberg wurde zum großen Teil durch den Gedanken der Soziokultur des damaligen Nürnberger Kulturreferenten Hermann Glaser mitbestimmt. Er schuf so die Voraussetzung zur Etablierung einer freien, unabhängigen Theaterszene in Nürnberg. Im Zuge dessen wurde die Pocket Opera Company 1974 als Opernstudio e. V. von Peter Beat Wyrsch und David Seaman gegründet und ist Deutschlands ältestes, freies Musiktheater. Wyrsch übernahm den inszenatorischen Teil, der Waliser David Seaman den musikalischen Part. Seaman behielt die Noten der aufgeführten Opern originalgetreu bei und reduzierte die Instrumentierung auf ein Kammerensemble (Bearbeitungen bis 2001).
Die ersten beiden Produktionen Dido und Aeneas (Purcell) und Bastien und Bastienne (Mozart) orientierten sich in der Inszenierung an üblichen Opernproduktion und waren aufgrund der kleinen Besetzung naheliegend. Die musikalische Qualität war durch die Mitwirkung der damaligen Sänger des Stadttheaters Nürnberg gegeben: so sang die Rolle der Dido die Kroatin Dunja Vejzovic, die im Anschluss ihrer Station in Nürnberg eine Weltkarriere unter Herbert von Karajan startete. Die dritte Produktion, OffenbachsGroßherzogin von Gerolstein im Aufführungsort KOMM war ein Erfolg, da damit auch ein junges Publikum abseits der bürgerlichen Operntradition angesprochen wurde.
Die ironische Brechung in Dramaturgie und Regie der Oper des 19. Jahrhunderts wurde in den folgenden Jahren ein Markenzeichen der Company, die damit in ganz Europa Erfolge feierte. Einen Beitrag dazu leistete die Sopranistin Elizabeth Kingdon, die ebenfalls vom Stadttheater Nürnberg kommend, damit eine zweite Karriere startete. Weitere Sänger von überregionaler Bedeutung, die für Produktionen der POC gewonnen wurden, sind Andrzej Dobber,[1] Gudrun Ebel, David Moss, Jennifer Rhys-Davies, Wolfgang Schmidt und Camilla Ueberschaer.[2]
Das Kernensemble, das den Stil der POC in den Anfangsjahren von 1977 bis 2000 geprägt hat, setzte sich aus Sängern neben Elizabeth Kingdon (Sopran) wie folgt zusammen:
Christoph Wagenknecht, Counter (Melitta Wolke-Desinee): Die Großherzogin von Gerolstein I; Regie der Großherzogin II 1984.
Nandor Tomory, Bass: Die Großherzogin von Gerolstein I, Der Vampyr I+II, Lucretia Borgia, La Gioconda, Aida, Der Ring, Carmencita, Die Fledermaus u. a.
Ute Rüppel-Leverrier, Sopran: Saroya, MOTZ-ART, Die Großherzogin von Gerolstein II, Der Vampyr I+II, Lucretia Borgia, Die Geierwally, La Gioconda, Aida, Hänsel und Gretel, Hahnenschrei im schnellen Adler, Hommage a O., Die Komponiermaschine, Transatlantik, Café Opera, Im Dschungel der Opernlüste, Die Fledermaus u. a.
Lorenzo Jordan, Bariton: Die Großherzogin von Gerolstein II, Der Vampyr II, Lucretia Borgia, La Gioconda, Aida, Café Opera, Im Dschungel der Opernlüste, Hänsel und Gretel, Transatlantik, Hahnenschrei im schnellen Adler, Der Ring, Die Fledermaus, Eliza in Wonderland
Claude Arias, Bass-Bariton, Bass: Die Großherzogin von Gerolstein II, Saroya, Musik Kinetik Szene Santoperanos, MOTZ ART, Der Vampyr I+II, Hommage a O, Lucretia Borgia, La Gioconda, Aida, Café Opera, Transatlantik, Der Ring, Die Fledermaus, Eliza in Wonderland
Peter Amstrong, Tenor: Saroya, Der Vampyr I, Hommage a O., Die Komponiermaschine, Die Geierwally
Bertold Schmidt, Tenor: Der Vampyr II, La Gioconda, Hahnenschrei im schnellen Adler
Wolfgang Schmidt, Tenor: Die Großherzogin von Gerolstein II, Der Vampyr II, Lucretia Borgia
Parallel dazu knüpfte Wyrsch Kontakte zu zeitgenössischen Komponisten (Franz Hummel, Friedrich Jaecker, Michel Meynaud, Heinrich Hartl) und entwickelte mit ihnen zusammen Opernsujets und vergab Kompositionsaufträge, die aktuelle, gesellschaftskritische Zeitthemen aufgriffen. 1997 wurde der italienische Komponist und Dirigent Andrea Molino musikalischer Leiter für zeitgenössisches Musiktheater, seine neu komponierte Oper The Smiling Carcass gelangte 1999 zur Premiere und fand große Beachtung.[3] 2003 wurde Franz Killer musikalischer Leiter, der nach dem Weggang von Wyrsch, der Intendant am Theater Biel Solothurn wurde, 2007 die alleinige Führung der Pocket Opera Company übernahm. Bislang legt er den Schwerpunkt auf die Aufführung unbekannter Barockopern, die mit zeitgenössischer Musik wie Sylvano Bussotti oder Moondog und aktuellen kulturellen Strömungen wie Poetry Slam, Breakdance oder Parkour kombiniert werden.
Überregional bekannt ist die Theatertruppe durch ungewöhnliche Spielorte. Mangels ausreichender finanzieller Mittel für aufwändige Bühnenbilder sucht die Pocket Opera Company immer wieder durch die Einbeziehung ungewöhnlicher Locations ein quasi „vorgefundenes Bühnenbild“ adäquat mit musikalischem Leben zu füllen. Den Beginn machte Hahnengeschrei im schnellen Adler im Ausbesserungswerk der DB, Nürnberg. Visuelle Auffälligkeiten waren auch ein alter Flugzeughangar (Palermo) oder eine Schwelbrandanlage zur Müllentsorgung (One charming night). Seit 2014 lautet auch das offizielle Motto Opera is everywhere! („Oper ist überall!“).
Im Wagner-Jubiläumsjahr 2013 komplettierte die POC dessen lediglich als Fragment hinterlassenes Frühwerk Männerlist größer als Frauenlist oder: Die glückliche Bärenfamilie (WWV 48) und brachte es im Rahmen des „Nürnberg spielt Wagner“-Festivals der Stadt Nürnberg als Uraufführung in einem Zirkuszelt auf die Bühne.
Zu einem Dauerbrenner entwickelte sich in den letzten Jahren eine Kurz-Version von Richard Wagners Der fliegende Holländer, die unter dem Titel Wash House Adventure 2012 in einem Nürnberger Waschsalon Premiere hatte. Die Produktion wurde aufgrund des konstant hohen Publikumserfolgs seitdem jedes Jahr wieder aufgenommen und gastierte 2017 auf dem Deutschen Städtetag. Im Dezember 2018 hatte das Stück seine insgesamt 50. Aufführung im Waschsalon und wurde 2019 unter dem Titel Wash House Infinity zur meistgespielten Produktion in der Geschichte der Pocket Opera Company.
2016 und 2019 realisierte die POC im Rahmen der Internationalen Gluck-Opern-Festspiele die Produktionen Il Parnaso confuso, Le Feste de Gluck sowie L’ombra dell'amore - Orfeo ed Euridice.
Zu den weiteren Programmpunkten der jüngeren Vergangenheit zählen die deutsche Erstaufführung der ersten südamerikanischen Oper La púrpura de la rosa von Tomás de Torrejón y Velasco, eine Inszenierung von Peter von WintersLa Grotta di Calypso in einem Hallenbad sowie die Produktion Tannhäuser Projekt featuring Dakh Daughters, bei der die ukrainische Frauenband Dakh Daughters auftrat.
Dem Musiktheaterwissenschaftler Hans-Jörg Kapp zufolge stellt „die Koexistenz der Oper Nürnberg und der Pocket Opera Company (...) bis heute eines der ganz wenigen überzeugenden Koexistenzmodelle von Stadttheater und Freier Szene dar“.[4]
Die Pocket Opera Company wird von der Stadt Nürnberg, dem Bezirk Mittelfranken, dem bayerischen Kultusministerium, der Kingdon-Grünwald-Stiftung, Sponsoren aus Wirtschaft und Industrie sowie privaten Mäzenen gefördert. Die Schirmherren der Pocket Opera Company sind Renate Schmidt, Günther Beckstein, Günter Gloser und Thomas Gruber.
the smiling carcass (Livemitschnitt in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk), Dirigent: Andrea Molino; CD Stradivarius STR 33558 (1999).
One charming night – Eigenverlag Pocket Opera Company, 2004.
La púrpura de la rosa – Audiotransit, 2017.
Literatur
Thomas Hermanns: Die Pocket Opera Company, Nürnberg – als freies, experimentelles Musiktheater. Magisterarbeit an der Ludwig-Maximilian-Universität. München 1988.
Hans-Jörg Kapp: Vom Bestellen lokaler Klangfelder - Freies Musiktheater im deutschsprachigen Raum. In: Eckhard Mittelstädt und Alexander Pinto (Hrsg.): Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland. Diskurse - Entwicklungen - Perspektiven. transcript, Bielefeld 2013, S. 187–188.
Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Band 3. Piper, München 1989, S. 677.
Matthias Rebstock: Freies Musiktheater in Europa / Independent Music Theatre in Europe: Vier Fallstudien / Four Case Studies. ITI Zentrum Deutschland und Matthias Rebstock (Hrsg.). transcript, Bielefeld 2020, S. 12.
Matthias Rebstock: Spielarten Freien Musiktheaters in Europa. In: Manfred Brauneck und das ITI Zentrum Deutschland (Hrsg.): Das Freie Theater im Europa der Gegenwart. transcript, Bielefeld 2016, S. 588/589.
Mathias Schulze, Peter B. Wyrsch: Pocket Opera Company - Dokumentation 1974-1989. Pocket Opera Company (Hg.). Nürnberg 1989.
↑Eckhard Mittelstädt, Alexander Pinto: Die Freien Darstellenden Künste in Deutschland: Diskurse – Entwicklungen – Perspektiven. transcript Verlag, 2014, ISBN 978-3-8394-1853-6 (google.de [abgerufen am 14. Januar 2021]).