Der 9. und 10. Psalm ist ein Psalm Davids und gehört in die Reihe der Danklieder und der Klagelieder. Die Einheit von 9. und 10. Psalm findet sich in der Septuaginta und in verschiedenen masoretischen Handschriften. Aufgrund verschiedener Beobachtungen kann davon ausgegangen werden, dass die Psalmen auch ursprünglich zusammengehörten.
Wegen der (verunreinigten) alphabetischen Anordnung (Akrostichon) der beiden Psalmen sind jeweils die ersten Buchstaben eines Verses gesondert hervorgehoben.
ראתה כי־אתה עמל וכעס תביט לתת בידך עליך יעזב חלכה יתום אתה היית עוזר׃
Du hast es gesehen, denn du, du schaust auf Mühsal und Gram, um es in deine Hand zu nehmen. Dir überlässt es der Arme, der Vaterlose; du bist ja Helfer.
Den Wunsch der Sanftmütigen hast du gehört, HERR; du festigst ihr Herz, lässt aufmerken dein Ohr,
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לשפט יתום ודך בל־יוסיף עוד לערץ אנוש מן־הארץ׃
um Recht zu schaffen der Waise und dem Unterdrückten, dass künftig kein Mensch von der Erde mehr zusammenschrickt.
Verhältnis von Psalm 9 und 10
Für die Zusammengehörigkeit der beiden Psalmen finden sich verschiedene Gründe:[1]
Das Fehlen einer Überschrift von Psalm 10
Das „SELA“ am Schluss von Psalm 9. Eigentlich sind diese סֶּלָה-Zeichen eher in der Mitte eines Psalms anzutreffen
Gemeinsamkeiten im Sprachgebrauch, so findet z. B. sich der Ausdruck „לְעִתֹּות בַּצָּרָה“ („Zeiten der Not“) in Ps 9,10 OT sowie in Ps 10,1 OT.
Psalm 10 lässt eine Fortführung der alphabetischen Anordnung des Psalm 9 erkennen, wenn auch recht stark verzerrt. Hermann Gunkel erklärt das mit der Unfügigkeit des Themas einerseits und der späteren „Verderbnis“ des Themas andererseits.[1] Es ist anzumerken, dass ein Akrostichon auch dann als solches zu betrachten ist, auch wenn einzelne Buchstaben nicht vollständig berücksichtigt sind.[2]
Heute kann angenommen werden, dass die beiden Psalmen zusammengehörig sind. Zusammen bilden sie zumindest eine liturgische Einheit. Nach dieser Auffassung dient Psalm 9 als Danklied der Unterstützung der Bitten aus dem Klagelied Psalm 10.[3]
Gliederung und Struktur
Zur Gliederung von Psalm 9/10 gibt es einige recht verschiedene Ansätze.
Vers 1–11: Klage über das Treiben der Gottlosen im Volk
Vers 12–15: Bitten: Die Armen nicht zu vergessen (Vers 12 und 14) und den Frevler zu stürzen
Vers 16–18: Rückkehr zum politischen Thema der Heiden
… und eine andere
Der französische Theologe Pierre Auffret findet folgende chiasmische Struktur zwischen Psalm 9 und 10 vor:[5]
Psalm 9,2–9 entspricht Psalm 10,6–15:
in Bezug auf das Herz (Vergleiche Ps 9,2a EU mit Ps 10,6a EU, 11a und 13b)
in Bezug auf das Angesicht (Vergleiche Ps 9,4b EU mit Ps 10,11b EU)
in Bezug auf den Thron (Vergleiche Ps 9,5b EU und 8a mit Ps 10,8a EU)
in Bezug auf den Gottlosen (Vergleiche Ps 9,6a EU mit Ps 10,13a EU und 15)
in Bezug auf die Ewigkeit (Vergleiche Ps 9,7a EU mit Ps 10,11b EU)
Psalm 9, 10–15 entspricht Psalm 10,1–5:
in Bezug auf die Zeit und das Unglück (Vergleiche Ps 9,10b EU mit Ps 10,1a EU und 5)
in Bezug auf die Suche (Vergleiche Ps 9,11b EU mit Ps 10,4b EU)
in Bezug auf das Elend (Vergleiche Ps 9,13b EU und 14a mit Ps 10,2a EU)
in Bezug auf das Lob bzw. die Freude (Vergleiche Ps 9,15a EU mit Ps 10,4a EU)
Datierung
Der Psalm ist einer späteren Zeit der Psalmdichtung zuzuweisen, in der die Gattungen bereits entwickelt waren. Bernhard Duhm und Emil Kautzsch datieren ihn auf die makkabäische Zeit. Hermann Gunkel hingegen nimmt das persische Zeitalter an.[6]
Gunkel
Duhm
Kautzsch
Bewertung
Hermann Gunkel bewertet den Psalm durch die alphabetische Anordnung als ein „künstliches“ Erzeugnis. So heißt in seinem Psalmkommentar:[1]
„An den inneren Zusammenhang eines so künstlichen Erzeugnisses darf man keine allzu strengen Anforderungen stellen. Der Verfasser mochte froh sein, wenn er für jeden Buchstaben ein passendes Wort gefunden hatte; sein Gedicht zu einem völlig einheitlichen Kunstwerk zu gestalten, reichte seine dichterische Kraft nicht aus.“
Anders hingegen wird die akrostichische Form unter anderem von Ulrich Berges bewertet. Dieser hält die Form für die elegante Entsprechung der Formvollendung.[7]
Wirkungsgeschichte
Unter anderem diese Lieder gehen auf die Psalmen 9 und 10 bzw. Teile davon zurück:
9 und 10 Heinrich Schütz, Beckerscher Psalter (1628, rev. 1661) „Mit Dank wir sollen loben“ (Psalm 8) SWV 104 und mit fröhlichem Gemüte (Psalm 9) SWV 105
Dirk Sager: Polyphonie des Elends: Psalm 9/10 im konzeptionellen Diskurs und literarischen Kontext (= Forschungen zum Alten Testament. 2. Reihe, Band 21). Mohr Siebeck, Tübingen 2006, ISBN 3-16-149088-6.