Wing Chun (chinesisch詠春 / 咏春 – „Frühlingslied“) ist eine vermutlich im frühen 19. Jahrhundert entstandene (süd-)chinesischeKampfkunst. Es wird manchmal aufgrund der Homophonie mit den Zeichen 永春, yǒngchūn, Jyutpingwing5ceon1 – „ewiger Frühling“ verwechselt, siehe Weng Chun.[2] Wing Chun ist damit einer der jüngsten Kung-Fu-Stile.[3]
Der romanisierte Name der Kampfkunst stammt aus dem Kantonesischen, daher gibt es bis heute keine geregelte Standardumschrift des Begriffs. Aus markenrechtlichen bzw. wirtschaftlichen Gründen, und um sich von anderen Schulen und Verbänden abzugrenzen, sind zahlreiche Schreibweisen entstanden, so beispielsweise Wing Tsun – später WingTsun (W.T.)[4], Wing Tsung, Wing Tsjun[5], Wing Tjuen, Wing Tzun, Wing Tzung[6], Wing Chung, Wing Shun, Wing Zun, Wyng Tjun, Ving Tsun (V.T.)[7], Ving Chun (VC)[8], Dynamic Ving Tshun (DVT). In Pinyin, dem offiziell verwendeten Umschriftsystem des Hochchinesischen (Standardchinesisch), werden die Schriftzeichen als Yǒngchūntranskribiert. Die einzelnen Umschriften repräsentieren zum Teil Derivate von größeren Verbänden und zum anderen völlig verschiedene Unterstile, die nur noch oberflächliche Gemeinsamkeiten haben. Alle Wing Chun-Stile werden im Chinesischen mit denselben Schriftzeichen „詠春 / 咏春“ geschrieben. Dieselben Schriftzeichen sind letztlich der Vorname von Yim Wing-chun – 嚴詠春 / 严咏春, Yán Yǒngchūn, eine Schülerin der Äbtissin Ng Mui – 五枚大師 / 五枚大师, Wǔméi Dàshī, kantonesisch五枚師太 / 五枚师太, Wǔméi Shītài. Die formal korrekte Bezeichnung des Kungfu-Stils im Chinesischen ist: Wing Chun Kuen詠春拳 / 咏春拳a – analog zum Begriff tàijíquán.[9][10][11][12][13][14]
Geschichte
Entstehung von Wing Chun
Die frühesten schriftlichen Aufzeichnungen über Wing Chun datieren aus dem Jahr 1854, belegt durch Schriftforschungen des Foshan-Museums und der Chin Woo Athletics Association of Foshan.[15]
Das traditionelle Wing Chun geht nach der mündlichen Überlieferung von Großmeister Yip Man (amtlich: Ip Man) und anderen Quellen zurück auf das untergegangene Süd-Shaolin-Kloster in der chinesischen Provinz Fujian, welches von den Qing-Truppen gegen Ende der Ming-Dynastie zerstört wurde. Die letzten buddhistischen Vertreter des traditionellen Wing Chuns waren der Süd-Shaolin-Abt Chi Sim und die Äbtissin Ng Mui, welche flüchteten und dann das Wing-Chun-System an Yim Wing-chun weitergaben. Ng Mui war auch diejenige, die die neue Kampfkunst Wing-Tsun erfand. Inspiriert wurde sie nach der Legende dabei von dem Kampf zwischen einem Kranich und einen Fuchs. Ziel ihrer Kampfkunst war es, dass eine schwächere Person einen deutlich stärkeren Gegner besiegen kann.
Die Mönchslinie des Wing Chuns aus Süd-Shaolin ging mit der Zerstörung des Klosters unter.[19] Chi Sim und Ng Mui gehörten zu den legendären Persönlichkeiten der „Fünf Ältesten des Shaolins“ e, die zur Regierungszeit Qianlongs (1735–1796) gelebt haben sollen.
Die neu entwickelte Kampfkunst erhielt ihren Namen von der ersten Schülerin von Ng Mui. Ihre erste Schülerin hieß Wing-chun und nach der Legende soll sie innerhalb von 3 Jahren diese neue Kampfkunst gemeistert haben.[20]
Neuere Geschichte
Die heute weltweit bekanntesten Stilrichtungen des Wing Chuns gehen auf den Kampfkünstler Yip Man (amtlich: Ip Man, 1893–1972) zurück. Der historisch erste Verband des Wing Chuns nach Yip Man ist die offizielle Ving Tsun Athletic Association (VTAA), deren Gründung 1967 auf Yip Man und sieben seiner damaligen Schüler zurückgeht. Der Sitz bzw. die Hauptgeschäftsstelle des Verbands VTAA befindet sich seit dieser Zeit auf der Nullah Road – 水渠道 – nahe der Hauptverkehrsader Nathan Road auf der Halbinsel Kowloon in Hongkong.[7] Zu dieser Zeit fand in Hongkong die erste öffentliche Demonstration des Wing Chun-Kampfsystems nach Yip Man in einem offiziellen Schaukampf im Winter 1969 im damaligen Baptist College – heute Hong Kong Baptist University – statt. Leung Ting, ein Schüler Yip Mans, lud seinen Meister und einige namhafte Vertreter der damaligen Kampfkunstszene ins College ein und führte vor dem Fachpublikum die Schaukämpfe durch.[21][22]
Die bekannteste Wing Chun-Stilrichtung ist der Yip-Man-Stil (englischIp Man Style), dessen Hauptlinie heute durch seine Söhne Yip Chun und Yip Ching (auch Ip Chun und Ip Ching) und Schüler der Ving Tsun Athletic Association (VTAA) vertreten werden. Als wichtige Unterstile des Yip-Man-Stils gelten aufgrund ihrer weltweiten Verbreitung:
„Wing Tsun“ (heute „WingTsun“) nach Leung Ting, das nach eigener Angabe auch die überprüften Ergebnisse seiner Kampferfahrungen und die seiner Schüler und anderer Wing Chun-Kämpfer bei Kung-Fu-Wettbewerben nutzte. Diese Methoden wurden später zum neuen, weltweit gültigen Unterrichtssystem der IWTMAA (heutige IWTA, International Wing Tsun Association) zusammengefasst und die abweichende Schreibweise gewählt, um den deutlichen inhaltlichen Unterschied gegenüber dem Yip-Man-Stil kenntlich zu machen.[23]
Wing Chun nach Lo Man-kam, offiziell Lo Man Kam Wing Chun, der dritte Schüler und Neffe von Yip Man. Er bekam in der Schule seines Onkels 10 Jahre Unterricht in der Kampfkunst Wing Chun. Im Jahr 1974 eröffnete er eine eigene Schule in Taipeh und war damit der erste, der diese Kampfkunst in Taiwan unterrichtete. Im selben Jahr kamen bereits die ersten beiden ausländischen Studenten, um von Sifu (Meister) Lo Man-kam in der Kampfkunst unterwiesen zu werden. In den folgenden Jahren kamen weitere Schüler, unter anderem aus Frankreich, der Schweiz, Deutschland, Südafrika, England, Belgien, Italien und Amerika um bei ihm Wing Chun zu erlernen.[24]
Weitere bekannte Stile sind:
Yuen-Kay-Shan-Stil
Pan-Nam-Stil
Yiu-Choi-Stil (Yiu-Kay-Stil)
Zu den weniger bekannten Stilen sind zu zählen:
Pao-Fa-Lien-Stil
Yuen-Chai-Wan-Stil (Nguyen Te-Cong-Stil)
Yip-Kin-Stil
Außerdem gibt es noch einige weitere Unter- oder Hybridstile dieser Stilrichtungen. Die umfangreichste Dokumentation liegt derzeit zum Yip-Man-Stil und dem Pan-Nam-Stil vor.
Prinzip und Technik 1
Der Grundstand
Der typische Grundstand oder die Hauptposition in allen chinesischen Kampfkünsten ist der Mabouf – 馬步 / 马步, englischhorse stance – „Pferdestand, Reiterstand“. Im Wing Chun ist es speziell der Yeejee Kimyeung Mag – 二字拑羊馬 / 二字拑羊马, englischgoat pinching stance, kurz goat stance – „Ziegenstand“.[25][26][27][28] Im „Leung Ting-WingTsun“ ist er als „IRAS“ – Internally Rotated Adduction Stance – bekannt. In diesem Stand werden die verschiedenen Formen ausgeführt oder auch Chi-Sao-Übungen trainiert. Der Grundstand bildet das Fundament für fortgeschrittene Techniken und ist Basis jeder Kampfkunst, insbesondere der Kampfkünste mit asiatischen bzw. ostasiatischen Wurzeln.[29]
Ein typisches Element einiger Wing-Chun-Stile ist der Kettenfauststoß. Je nach angegriffenem Körperteil und Intention des Kämpfers werden Fauststöße, Fingerstiche, Handkantenschläge oder Hammerfäuste bei Schlägen eingesetzt.
Die Kraft des Gegners wird durch Schritttechniken wie Wendungen neutralisiert und gegen ihn verwendet – Gleichzeitigkeit von Angriff und Abwehr, der Angriff ist die Verteidigung. Ein Schlag des Gegners wird so beispielsweise durch einen konternden Gegenschlag abgewehrt.
Der Stil ist weiterhin durch seine Trittarbeit charakterisiert, die nur sehr wenige Grundtritte umfasst und mit der im Allgemeinen nur niedrige Ziele bis etwa zur Höhe der Hüfte angegriffen werden.
Waffen
Wing Chun war ursprünglich eine Kampfkunst ohne Waffen.
Im frühen 19. Jahrhundert erweiterten Wong Wah-bo – Schüler von Leung Bok-chow, Ehemann der Stilbegründerin Yim Wing-chun – und Leung Yee-tai – Schüler des untergetauchten Süd-Shaolin-Abts Chi Sim auf der „Roten Dschunke“ h – genauer Rote Dschunke der Kanton-Operntruppe – 紅船戲班 / 红船戏班 – den Kung-Fu-Stil um zwei Waffenformen:
Langstock – genauer „Sechseinhalb-Punkt-Langstock“ – Luk Dim Bun Gwan i, 六點半棍 / 六点半棍, englischsix and a half point pole
Die Übungen und Formen wurden den Prinzipien des Wing Chuns angepasst.
Historische Dokumente hierzu sind nicht überliefert. Wong Wah-bo wird in vielen anderen Entstehungslegenden anderer Stile (z. B. Hung Kuen) erwähnt. Seine Existenz ist weder belegt noch widerlegt. Er spielt in nahezu allen Wing-Chun-Legenden eine Schlüsselrolle.
Die ersten Grundlagen des Wing Chuns werden zumeist in kurzen Formen (San Saok) oder langen Formen (To Lol) erlernt und geübt. Formen sind festgelegte Abfolgen von Techniken, die jeder Schüler alleine durchführt. Die Formen des Wing Chuns sind – siehe auch die japanischen Kata – jap.かた, Kanji形, 型 – oder dem koreanischenHyeong – kor.형, Hanja形 – wie ein „Notizbuch“ zur Vermittlung von Theorien und Techniken zu verstehen und nicht als ein ritualisierter Kampf gegen imaginäre Gegner. Reihenfolge, Anzahl und Art der Formen ist in den verschiedenen Wing-Chun-Stilen oftmals sehr unterschiedlich. In einigen Wing-Chun-Stilen werden weniger als die nachstehend aufgeführten sechs bekanntesten Formen praktiziert, in anderen werden mehr oder gänzlich andere Formen unterrichtet.
Die bekanntesten Formen sind:
Siu Nim Tau / Siu Lim Taom – 小念頭 / 小念头 – „kleine Idee“ – etwa anfänglicher Gedanke, Grundidee. Die Siu nim tau-Form („Kleine-Idee-Form“) ist die erste Form im Wing Chun-System. Hier lernt man in 8 Schritten (häufig als „Sätze“ bezeichnet) verschiedene Grundbewegungen, die man auch als Grundlagen in Angriff und Verteidigung ansehen kann. Die Siu nim tau wird im Grundstand durchgeführt. Schrittarbeit und Wendungen sind (in der Regel) noch nicht vorhanden.[30]
Cham Kiu / Chum Kiun – 尋橋 / 寻桥 – „Brücke finden, Brückensuche“ – also eine „Brücke“ finden, um über „diese Verbindung“ den Gegner auf Abstand zu halten und zu blockieren bzw. einen Weg zu den Techniken des Gegners finden, um ihn anzugreifen. Die Cham Kiu-Form („Brücken-Suche-Form“) beinhaltet hauptsächlich Defensivtechniken sowie Techniken zur Distanzhaltung und Distanzüberbrückung zum Gegner. In dieser Form kommen Schritte, Wendungen und Tritte hinzu.[31]
Biu Ji / Bju Tseo – 鏢指 / 镖指 – „Pfeilfinger“ – etwa Stoßende Finger. In der Biu Tze-Form – „Pfeilfinger-Form“ – sind hauptsächlich Offensivtechniken enthalten. Die Biu Tze-Form – „Pfeilfinger-Form“ – wird auch oft als „Notlösungsform“ beschrieben, da sie auch vermittelt, wie man durch Angriffe von einer ungünstigen wieder auf eine günstige Position im Kampf kommen kann. Da in dieser Form unter anderem gefährliche Techniken wie Fingerstiche in die Augen, Handkantenschläge zum Hals und verschiedene Ellenbogentechniken zum Kopf enthalten sind, wird die Biu Tze – „Pfeilfinger“ – von vielen Lehrern und Meistern oft nur an vertrauenswürdige und treue Schüler weitergegeben. Aus dieser Tradition stammt der in Wing Chun-Kreisen verbreitete Spruch „Der Biu Tze – „Pfeilfinger“ – verlässt niemals das Haus“.[32]
Muk Yan Jong Fat / Mok Jan Chong Fatp – 木人樁法 / 木人桩法 – „Holz-Mann-Pfahl-Technik, Holz-Mann-Pfahl-Arbeit“ – etwa Holzpuppen-Technik. Die Muk Yan Jong-Form („Holzpuppe-Form“) ist die höchste waffenlose Form im System. Sie enthält sowohl Techniken aus den vorherigen Formen, als auch neue Techniken. Alle Techniken werden an der Holzpuppe geübt. Das Training an der Holzpuppe verfolgt verschiedene Ziele. Eine davon ist, sich auch gegen stärkere, nicht nachgebende Gegner durchzusetzen. Des Weiteren werden die Extremitäten des Praktizierenden auf Dauer abgehärtet. Die Holzpuppe wird oft auch als Ersatz für einen Trainingspartner gesehen.[33][34]
Luk Dim Bun Gwan Fat / Luk Dim Ban Kwun Fatq – 六點半棍法 / 六点半棍法 – „Sechseinhalb-Punkt-Langstock-Technik, Sechseinhalb-Punkt-Langstock-Arbeit“ – etwa Langstock-Technik. Die Luk Dim Bun Gwan-Form („Sechseinhalb-Punkt-Langstock-Form“) ist eine Langstockform und somit die erste Waffenform im Wing Chun-System. Der Langstock hat seine Funktion als Waffe[35] aufgrund der Länge (in der Regel 2–3 Meter) weitestgehend verloren. Heutzutage wird der Langstock mehr als Trainingsgerät zur Verbesserung der Ganzkörperstruktur bzw. der Haltung des Körpers, der Explosivkraft und Verbesserung der Präzision der einzelnen Handpositionen verwendet.[36][37]
Bart Cham Do / Pa Cham Dor – 八斬刀 / 八斩刀 – „Acht-Schnitt-Messer“ – etwa Achtschnitt-Messer-Technik. Die Bart Cham Do-Form („Achtschnitt-Messer-Form“) ist die letzte und höchste Form im Wing Chun-System. Sie vermittelt weitere Techniken und Bewegungsformen und schließt das System ab.[38]
Ein wesentlicher Bestandteil der meisten Wing-Chun-Stile ist das Chi Sao (Klebende Hände)A, welches auf die unterschiedlichsten Arten praktiziert werden kann. Das Chi Sao dient der Steigerung des Tastsinns und der Verbesserung der „taktilen“ Reflexe. In der in Europa am meisten verbreiteten Stilrichtung, dem Leung Ting Stil, wird das Chi Sao als Partnerformen, sogenannte „Sektionen“, vermittelt.[39][40]
Organisationsstruktur
Familiäre Struktur der Vergangenheit 1
In der Vergangenheit im alten China wurde das Wing Chun, wie alle anderen Kampfkünste oder auch Handwerkszünfte, traditionell in einem familiären Charakter, jeweils von Sifus – 師傅 / 师傅 – „Meister“ – zu Toudait – 徒弟 – „Schüler, Lehrling“ – weitergegeben. Der Meister, der die persönliche Verantwortung für die gesamte Ausbildung des Schülers (Lehrlings) hatte, wurde als Sifu (Meister) angesprochen. Der Unterricht fand gegen Bezahlung oft im Wohnhaus des Meisters statt, eine persönliche Bindung zwischen dem Meister bzw. dessen Familie und dem Schüler (Lehrling), mit bestimmten gegenseitigen Verpflichtungen, war die Regel. In Hongkong wurden die ersten öffentlichen Kampfkunstschulen gegründet. Seitdem nahm der Unterricht im Wing Chun stärker einen modernen schulischen mit kommerziell geschäftlichem Charakter an.
Jedoch wurde in einigen Schulen das familiäre System weiterhin gewahrt. Lo Man-kam, ein Neffe Yip Mans, unterrichtet noch heute seine Schüler in seinem Wohnhaus in Taipeh. Geeignete auserwählte langjährige Schüler werden dort heute noch durch den Sifu in der traditionellen Weise durch eine „Meister-Schüler-Teezeremonie“ – Bai Si Laiv, 拜師禮 / 拜师礼 – in den inneren Kreis der Wing Chun-Familie aufgenommen. Diese Zeremonie unterstreicht die tiefe persönliche Bindung, die durch das lange Training zwischen Meister und Schüler entstanden ist.
Verbandsstruktur im heutigen Europa 1
Es gibt in Europa keinen einheitlichen Dachverband, unter dem die Wing Chun-Praktizierenden zusammengefasst sind, sondern zahlreiche, zum Teil miteinander konkurrierende und zerstrittene Verbände, Schulen und Einzellehrer. Die meisten Verbände treten dabei nicht in der Rechtsform der Vereine auf, die sich freiwillig zu einem Verband zusammengeschlossen haben, sondern als kommerzielle Organisationen, in denen assoziierte Schulen eingegliedert sind, welche vom Verband autorisiert und zertifiziert werden. Manche der Verbände sind in einem Franchise-System organisiert.
In einigen Verbänden werden in Anlehnung an das früher übliche Familiensystem Gehorsam und Verpflichtungen gegenüber dem Lehrmeister (Sifu) und dessen Lehrmeister – Sigungw – 師公 / 师公, Sijox – 師祖 / 师祖 – betont, obwohl diese nur noch selten direkt an der Ausbildung ihrer Schüler beteiligt sind.
Wahrnehmung im deutschsprachigen Raum
Aufgrund der hohen Medienpräsenz des EWTO-Wing-Tsuns (Leung Ting, Keith Kernspecht) verbinden Interessierte leicht das Wing Chun in Deutschland, Österreich und der Schweiz lediglich mit diesem großen Zweig des Yip Man-Wing Chuns (auch Ip Man-Wing Chuns).
In den deutschsprachigen Foren wird zudem oft versucht, aus wirtschaftlichen Gründen den Eindruck zu erwecken, dass alle Wing-Chun-Schulen in Deutschland ehemals zur EWTO gehörten bzw. von ehemaligen EWTO-Angehörigen geleitet werden. Häufig herrscht Unkenntnis darüber, dass in Deutschland bereits seit Mitte der 1970er Jahre z. B. auch das Wing Chun der Yip-Man-Linie bzw. Chu-Shong-tin-Linie unterrichtet wird. Ebenso sind weitere Schulen bzw. Lehrer, welche niemals eine Verbindung zur EWTO hatten, in Deutschland vertreten. Die Yip-Man-Wing-Chun-Linie ist in Deutschland z. B. auch durch die Linien nach Yip Chun, Lok Yiu, Wong Shun-leung, Philipp Bayer und Lo Man-kam vertreten. Linien anderer Wing-Chun-Stilrichtungen nach dem anderen bekannten Meister wie beispielsweise Yuen Kay-shan werden nur selten öffentlich unterrichtet, sind aber auch in sehr geringer Anzahl in Deutschland ansässig.
Das Lee-Shing-Wing-Chun, ein eng mit der Yip-Man-Linie verwandter Wing-Chun-Stil, findet in der Schweiz große Verbreitung. Auch bei den mit dem EWTO-Wing-Tsun (Leung Ting) verwandten Schulen ist inzwischen eine Generation in Erscheinung getreten, deren Lehrer zwar bei ehemaligen EWTO-Angehörigen Unterricht erhielten, sie selbst aber niemals Mitglied der EWTO waren.
Graduierungen
Wing Chun wurde bis in die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ohne ein Graduierungssystem gelehrt. Über Sinn und Zweck der Graduierungen bestehen unterschiedliche Ansichten, ein einheitliches Graduierungssystem existiert nicht. Einige Schulen lehnen bis heute ein Graduierungssystem ab.
Das bekannteste Graduierungssystem in Deutschland und Österreich ist das von Leung Ting zu Beginn der 1970er Jahre ersonnene System. Es umfasste ursprünglich vier Techniker-, vier Praktiker- und vier Großmeistergrade. Später kamen noch zwölf Schülergrade hinzu.[41][42] Die Bezeichnung „Technikergrad“ wurde in der EWTO durch „Höherer Grad“ abgelöst.[43] Die von der EWTO vertretene Ansicht, dass die Einteilung in Schülergrade eigentlich nur außerhalb Hongkongs praktiziert wird,[44] ist falsch. Nicht nur, dass diese Einteilung auf der Website von Leung Ting dargestellt ist,[45] es wurde im Forum der IWTA auch noch einmal betont.
Die International Wushu Federation, kurz IWUF (國際武術聯合會 / 国际武术联合会), hat ihr 1998 eingeführtes Graduierungssystem im Jahr 2010 völlig überarbeitet.[46] Nun ist es auch möglich, in bisher etwas benachteiligten Stilen, wie dem Wing Chun, höhere Duan-Grade zu erreichen (aufgrund der Anzahl der geforderten Formen war es in vielen Wing Chun-Stilrichtungen nicht möglich, höhere Duan-Prüfungen abzulegen[47]). Die Swiss Wushu Federation arbeitet bereits nach diesem Graduierungssystem und hat erste Prüfungen im Wing Chun abgenommen.[48] Da das Wing-Chun-Graduierungssystem stilübergreifend aufgebaut ist, beruht es z. B. nicht auf den o. g. bekanntesten Formen. Vielmehr handelt es sich um verschiedene, eigens für dieses Graduierungssystem zusammengestellte, Einzel- und Partnerübungen.[49]
Anwendung in der Praxis (Auswahl)
Erwachsenensport
Seit 2018 wird in der Schweiz vom Bundesamt für Sport WingTsun als „esa-Fachdisziplin“, also Fachdisziplin der Erwachsenensport Schweiz (esa), geführt.[50][51] Für die Leiterausbildung sind die EWTO-Schulen Schweiz GmbH als esa-Partnerorganisation[52] anerkannt und bieten die Ausbildung zum/zur „esa-LeiterIn WingTsun“ auch für nicht EWTO-Mitglieder an. Voraussetzung ist die mehrjährige Ausbildung in einer Wing Chun-Schule.
Zudem werden seit 2002 die Polizeibeamten des Wachdiensts der Landespolizei Nordrhein-Westfalen im „Avci Wing Tsun“ ausgebildet.[60][58] Die einsatzbezogenen Selbstverteidigungs- und Festnahmetechniken der GSG 9 der Bundespolizei stammen unter anderem vorwiegend aus dem „Wing Tsun“.[61]
Die Polizei in Sri Lanka wird seit 2014 im „Wing Tsjun“ von dem internationalen Dachverband Wing Tsjun International bzw. Boehlig Defense Systems unterrichtet.[62]
Der auf Englisch sogenannte Code of Conduct, Chinesisch 詠春祖訓 bzw. in Kurzzeichen 咏春祖训 (Mandarin: Yǒngchūn Zǔxùn, Kantonesisch: Wing6 ceon1 zou2fan3) soll aus der Feder von Großmeister Yip Man selbst stammen. Ein Blogger auf Taipei Wing Chun schreibt aber, dass der Text auch von Lee Man (李民), einem guten Freund von Yip Man, stammen könnte.[65]
Der Verhaltenskodex, wörtlich „Wing-Chun-Weisungen der/des Ahnen“ oder Altvorderen, besteht aus neun Regeln, die aus westlicher heutiger Sicht teilweise etwas befremdlich scheinen. Hier ist er mit kantonesischer (Jyutping) und Mandarin-Lautschrift sowie einem deutschen Übersetzungsversuch:
Trag weiter das Erbe des/der Ahnen (des Wing Chun) und halte dich sorgsam an seine/ihre Regeln.
Persönlichkeiten (Auswahl)
Es gibt eine Reihe bekannte Persönlichkeiten, bei denen bekannt ist, dass diese Wing Chun gelernt haben bzw. praktizieren oder noch lernen. Darunter gehören beispielsweise:
Bruce Lee (1940–1973) lernte mit 13 Jahren unter Ip Man die Kampfkunst Wing Chun. Später kombinierte er das „klassische“ Wing Chun und andere Kampfkünste unter der Philosophie und dem Konzept des praktischen Nutzen im modernen Straßenkampf und entwickelte daraus eine neue Kampfkunst namens Jeet Kune Do.
Jackie Chan (* 1954) ist unter anderem dafür bekannt, dass er verschiedene Kampfkunstarten beherrscht, so auch das Jeet Kune Do. Er ist außerdem von Wing Chun begeistert. Wie weit er sein Wissen über Wing Chun unter Leung Ting vertiefen konnte, ist allerdings nicht bekannt.[66]
Michelle Yeoh (* 1962) hatte keine formale Kampfkunstausbildung, sondern lernte die nötige Bewegung und Technik der Kampfkunst adhoc für die verschiedenen Filmrollen. Ihre Lehrer waren unter anderem Lam Ching-ying und Corey Yuen.
Robert Downey Jr. (* 1965) begann 2003 beim Sifu Eric Oram, der ein Schüler von Sifu William Cheung (Schüler von Ip Man) war, Wing Chun zu praktizieren. Nach eigener Aussage soll ihm Wing Chun die Kraft gegeben haben seine Sucht zu überwinden.[69]
Benjamin Piwko (* 1980) ist wahrscheinlich besser als der erste gehörlose Tänzer bei der Sendung Let’s Dance bekannt. Er ist allerdings neben Schauspieler auch Kampfsportler und trainierte von 1990 bis 2003 neben Aikidō, Thaiboxing, Boxen, Grappling, Escrima auch Wing Chun.[70][71][72]
Unter dem Titel Wing Chun – Gefährlich wie eine Pantherkatze erschien 1994 ein Film zur Kampfkunst Wing Chun. In diesem Film steht die Gründungslegende von Wing Chun im Mittelpunkt.
Unter dem Titel Ip Man erschien 2008 die erste filmische Adaption der Biographie von Yip Man, welche die Kampfkunst als zentralen Lebensinhalt des Meisters darstellte. Es entstanden insgesamt sechs Werke verschiedener Regisseure, die den Wing-Chun-Meister in seinen unterschiedlichen Lebensphasen begleiten.
Robert Chu, Rene Ritchie u. a.: Complete Wing Chun. The Definitive Guide to Wing Chun’s History and Traditions. Tuttle Publishing, Boston 1998, ISBN 0-8048-3141-6 (englisch).
Alan Gibson: Wing Chun. Für Einsteiger und Fortgeschrittene. 1. Auflage. Weinmann, Berlin 2007, ISBN 978-3-87892-090-8 (Englisches Originalwerk übersetzt von Marcus Rosenstein).
Leung, Ting: Roots and Branches of Wing Tsun. 1. Auflage. Leung’s Publications, Hongkong 2000, ISBN 962-7284-23-8 (englisch).
Birol Özden: VC-Ving Chun: Selbstschutz, Martial Arts, Kampfsport, Combat, Selbstverteidigung für Selbstsicherheit und Dynamic, Band 1: Lehrbuch für Einsteiger. Ving Chun Verlag, Köln 2001, ISBN 3-00-007489-9.
Anmerkungen
1
Die Fachbegriffe des Wingchun-Kungfus im Artikel stammen meist aus der kantonesischen Sprache. Aufgrund des Fehlens eines amtlichen Umschriftsystems im Kantonesischen erscheinen diese latinisierten Begriffe oft uneinheitlich für Chinesischunkundige. Wenn nicht explizit durch ein Umschriftsystem erklärt (z. B. Jyutping), erfolgt allgemein die Aussprache der kantonesischen Fachbegriffe (Umschrift) nach der englischen Sprache.
2
Die Länge des „Sechseinhalb-Punkten-Langstocks“ – 六點半棍 / 六点半棍, liùdiǎnbàn gùn, Jyutpingluk6dim2bun3 Gwan3 beträgt ca. 12–13 Chi – nach dem heutigen Umrechnungswert 1 Chi ≈ 1/3 Meter in Festlandchina, etwa 3,6–3,9 m lang.
↑Robert Chu, Rene Ritchie u. a.: Complete Wing Chun. The Definitive Guide to Wing Chun’s History and Traditions. Tuttle Publishing, Boston 1998, ISBN 0-8048-3141-6 (englisch); Leung Ting: Roots and Branches of Wing Tsun. 1. Auflage. Leung’s Publications, Hongkong 2000, ISBN 962-7284-23-8 (englisch).
↑Begriff 师太 / 師太 – shītài. In: zdic.net. Abgerufen am 30. Oktober 2019 (chinesisch, deutsch, Begriff für eine buddhistische / daoistische Nonne im höheren Alter aus dem Kantonesischen).
↑The White Book. Development of Foshan Wing Chun as reported by the Chin Woo Athletics Association of Foshan. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 3. Januar 2014; abgerufen am 20. März 2018.
↑Jan Peter Hintelmann: Westliche Sinnfindung durch östliche Kampfkunst? Iko-Verlag für Interkulturelle Kommunikation. Berlin 2005, ISBN 3-88939-774-3.
↑David Peterson, Melbourne Chinese Martial Arts Club: Look Beyond the Pointing Finger. The Combat Philosophy of Wong Shun-leung. Melbourne Chinese Martial Arts Club, Melbourne 2001, ISBN 0-9579570-0-9 (englisch).
↑Leung Ting: Roots and Branches of Wing Tsun. 1. Auflage. Leung’s Publications, Hongkong 2000 (englisch).
↑Großmeister Ip Man: The Origin of Wing Chun. In: Ving Tsun Athletic Association. Ving Tsun Athletic Association, 1990, abgerufen am 22. Oktober 2018 (englisch).
↑Master Tse’s Wing Chun Note 236. Ng Mui Si Tai 五枚師太 – Part 5. In: londonwingchun.net. 7. Juni 2019, abgerufen am 9. August 2020 (englisch, Entstehungsgeschichte des „Ziegenstands“ – Goat stance).
↑David Peterson: “Get Out Of The Way, …And Make Them Pay”. The Street-Effective Footwork Of Wing Chun. In: wslwingchun.com. Dezember 2001, abgerufen am 9. August 2020 (englisch, Published 'Fight Times' magazine (NZ), December/January (2001/2002)issue).
↑Kerstin Kunz: Die Wichtigkeit des IRAS. Der IRAS (Internally Rotated Adduction Stance) ist eine wichtige Grundvoraussetzung zur Ausführung der Siu-Nim-Tau-Form. In: wingtsunwelt.com. 30. Juni 2008, abgerufen am 9. August 2020 (deutsch, englisch).
↑Siu-Nim-Tau korrekt geübt. In: wingtsunwelt.com. 30. Juni 2006, abgerufen am 9. August 2020 (deutsch, englisch).
↑superuser: VING TSUN KUNG-FU (nach Ip Man - Wong Shun-leung). In: VING TSUN Kung Fu Ausbildung,Kampfsport. 8. November 2015 (vingtsun-trainer.de [abgerufen am 19. Dezember 2017]).
↑Textbook Series of Chinese Wushu Duanwei System – Yongchunquan (Buch in Chinesisch, mit DVD) Autor /Herausgeber: Wushu Research Institute of the General Administration of Sport of China, ISBN 978-7-04-025828-8.
↑WT ACADEMY CANARIAS. In: wtacademycanarias.com. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 10. Januar 2021; abgerufen am 14. Mai 2021 (deutsch, englisch, spanisch).
↑Benjamin Piwko. Schauspieler / Trainer / Botschafter. In: benjaminpiwko.com. Archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 12. Februar 2020; abgerufen am 9. Juni 2021: „1990–2003 trainiert er Akidio, Thaiboxing, Boxen, Grappling, Escrima, Wing Tsung“
↑Benjamin Piwko: Steckbrief, News und Bilder. Star Profil. In: promipool.de. Promipool, archiviert vom Original (nicht mehr online verfügbar) am 29. November 2020; abgerufen am 9. Juni 2021: „Mit sechs Jahren begann er mit Judo, es folgten Aikido, Thaiboxing, Wing Chun und die selbst erfundene Kampfsportart Wun Boxing Thai Style.“