Phantom (Gerhart Hauptmann)Phantom. Aufzeichnungen eines ehemaligen Sträflings sind der Titel und Untertitel eines 1915–1921 entstandenen und 1922[1] publizierten Romans von Gerhart Hauptmann. Die Hauptfigur Lorenz Lubota erzählt die Geschichte seiner Obsession. Durch die Faszination von einem Mädchen verstrickt er sich in kriminelle Handlungen. Die Verarbeitung seiner Zwangsvorstellungen bewirkt eine Wandlung seiner Persönlichkeit und führt ihn zu einem neuen Lebensstil. ÜberblickLorenz Lubota erzählt, wie er durch eine platonisch-erotische Obsession zunehmend den Bezug zur Realität verliert, sich in eine große Karriere hineinträumt und dadurch zum Betrüger wird. Auslöser der Tragödie des äußerlich unansehnlichen, hinkenden Magistratsschreibers ist die Liebe zu Veronika Harlan, einem schönen 13-jährigen Mädchen, das er zu seinem Idol erhebt. Um sie einmal heiraten zu können, muss er erfolgreich sein. Er konstruiert sich eine Zukunft als erfolgreicher, von der Gesellschaft anerkannter Dichter. Seine Tante Helene Schwabe, eine zwielichtige Pfandleiherin, überzeugt er mit seinen Aufstiegshoffnungen und Heiratsmöglichkeiten, und sie leiht ihm Geld für ein angemessenes Auftreten. Schwabes Liebhaber Wigottschinski nutzt ihre Schwäche für den Neffen aus. Er schlägt Lubota die Gründung einer Firma mit einem Anschubkredit seiner Tante vor. Diese geht darauf ein und Lorenz kündigt seine Stelle bei der Stadtverwaltung. Die Geschäftspartner versuchen jedoch nicht, ihr Modell umzusetzen, sondern geben das Geld für Vergnügungen aus. Beteiligt ist auch Lubotas Schwester Melanie, die als Prostituierte arbeitet. Wigottschinski ist ihr Zuhälter, und er stellt sie als Sekretärin der Scheinfirma ein. Lorenz steigert sich weiter in seine irreale Welt hinein. Er wirbt bei den Eltern um die Hand Veronikas, wird von diesen nicht ernst genommen und taktisch geschickt vertröstet. Er begegnet der Hetäre Melitta, die seinem Idol ähnlich sieht, und finanziert sie und ihre Mutter. Als das Geld der Tante ausgegeben ist, überredet er sie zu einem weiteren Kredit. Doch diese wird misstrauisch, bespricht sich mit einem Kriminalkommissar und verlangt Einblick in seine nicht vorhandenen Geschäftsbücher. Wigottschinski entwickelt daraufhin den Plan, die Pfandleiherin auszurauben, und rechtfertigt dies mit der Bestrafung der unmoralischen Wucherin. Er lenkt sie in einer Liebesnacht ab, während ein Einbrecher ihren Tresor ausräumt. Helene Schwabe bemerkt jedoch, durch die Haustürklingel aufgeweckt, den Raub und schreit um Hilfe. Wigottschinski erwürgt sie. Der Einbrecher flieht und übergibt, wie geplant, den Raub der Schmiere stehenden Melanie, die damit untertaucht. Der Mord wird entdeckt und der Kriminalkommissar lenkt die Ermittler auf die von ihm vermuteten Täter. Der Mörder Wigottschinski wird hingerichtet, Lubota erhält wegen Beihilfe eine sechsjährige Zuchthausstrafe. Die Rahmenhandlung spielt nach Lubotas Entlassung. Er hat sich mit Hilfe zweier Freunde, des Buchbinders Starke und seiner Tochter Marie, von seinen Zwängen weitgehend befreit und lebt jetzt zufrieden und mit einer gedämpften Gefühlswelt in einem Dorf abseits der großen Gesellschaft. Er hat Marie geheiratet und sie und ihr Vater sind, auch finanziell durch ihr Krämerlädchen, die Stützen seines neuen Lebens. Als Therapie arbeitet er im Garten und schreibt den Roman über sein Leben. Inhalt
RezeptionDie Rezeption von Hauptmanns „Phantom“ stand lange Zeit unter dem Eindruck der Kritik des Fischer-Buchverlegers, der Autor sei durch den in neun Folgen in einer Illustrierten erschienenen Roman in die Kategorie der Unterhaltungsschriftsteller gerückt worden und dies habe die Buchveröffentlichung literarisch entwertet.[15] Diese Einordnung des „Phantom“ als Belletristik mit Kriminalhandlung, Beichte und Sittenbild verstärkte sich noch dadurch, dass die Endfassung erst unmittelbar nach dem Entwurf zum Murnau-Film (1922) geschrieben wurde und sich an der Szenenfolge des Exposés orientierte.[16] Lauterbach weist in seinem Nachwort auf die unterschiedliche Rezeption des Autors in der Bundesrepublik und der DDR hin: Einerseits die Betonung der Bindung Hauptmanns an das 19. Jh. und seine Charakterisierung als orientierungsloser Repräsentant des bürgerlichen Geistes, andererseits seine Kritik der preußisch-deutschen Gesellschaft und seine Prophezeiung ihres Zusammenbruchs. Zu einer Neubewertung des „Phantom“ kam es durch die Untersuchung des autobiographischen Hintergrundes mit der Akzentuierung der Zivilisationskritik. Lauterbach greift in seiner Analyse Äußerungen Hauptmanns gegen das Großbürgertum und die Justiz auf: Der Autor kannte Breslau, auch die Dekadenz-Gesellschaft im Nachtlokal und der Weinstube Hansen, das Verbrecher- und Dirnenmilieu. Deren authentische Schilderung trauten viele Rezensenten[17] Hauptmann nicht zu. Lauterbach hinterfragt dieses Urteil: „Liegt es daran, dass die Schriftsteller seither robuster mit ihren Lesern umgehen? Vielleicht ist die als Konfession getarnte psychologische Studie von dem tb-gefährdeten, hinkenden, pickeligen Schreiber, der das Augenmaß für seine Möglichkeiten verliert in einer Welt, die dem Schein vor dem Sein den Vorrang gibt, erst heute entsprechend zu würdigen.“[18] Als Schlüssel für das Verständnis des Romans dient Lauterbach die Biographie des jungen Hauptmann. „Phantom“ sei eine Rückbesinnung auf die Zeit, die der Autor bei der Verfassung des Romans hinter sich gelassen hat. In die Kriminalhandlung eingebracht habe er erstens die „Gefährdung während der Breslauer Studienjahre“, die im Gegensatz zur Fiktion durch Hauptmanns erste Ehefrau Marie Hauptmann unterbrochen worden war. Zweitens habe er seine Erfahrungen mit Frauen verarbeitet: Er verlobte sich 1861 heimlich mit der wohlhabenden 21-jährigen Kaufmannstochter Marie Thienemann, die ihn finanzierte. Während ihrer Ehe begann er 1893 eine Beziehung mit der 18-jährigen Schauspielerin Margarete Marschalk, die bei ihrer ersten Begegnung 14 Jahre alt war. Die Situation wiederholte sich 1805, als er mit Margarete in zweiter Ehe verheiratet war und die 16-jährigen Schauspielerin Ida Orloff seine Geliebte wurde. Wie in anderen literarischen Werken, z. B. Atlantis, verarbeitete der Autor offenbar diese Krisensituationen auch im „Phantom“ an literarischen Kontrastfiguren:[19] Die Beschreibung Ida Orloffs in Hauptmanns Tagebuch wird sowohl für Veronika („Kinderköpfchen“) als auch für Melitta eingesetzt. Dabei spaltet der Autor seine Faszination von Mädchenfrauen auf in eine platonische (Veronika) und sexuelle Liebe (Melitta). Nach Lauterbach machte der junge Hauptmann die bestürzende Erfahrung, dass die „»Jungfrau immaculata«, dieses betörende reine Kind, diese Heilige sich als ein Wesen ganz anderer Art entpuppte, als ein von seinen Trieben beherrschter »gefallener Engel«, der »keinem Manne, alt oder jung, arm oder reich, zerlumpt oder geschniegelt, dumm oder genial, wenn er nur winkt, widerstehen konnte« […] Als könnte er es nicht verwinden, dass er bei der ersten Begegnung Reinheit, Keuschheit, Unschuld und Einfalt auf diesen Lolita-gleichen Teenager, diese fragile Lilith projiziert hatte, machte er immer neue und immer verzweifeltere Anstrengungen zu ihrer oder seiner Errettung. »Sie sei mir wie eine liebe Verstorbene« schrieb er in sein Tagebuch und bahrte »die kleine, süße Tote« in seinem Innern auf. Das gleiche Bild erscheint wiederholt im Romanwerk, […] [D]ie äußere Trennung bedeutet [jedoch] längst noch nicht die innere Befreiung. […] Was die Realität den Menschen gelehrt hat, will der Dichter nicht wahrhaben.“[20] Im „Phantom“ gewinnt die Madonna mit Veronika reales Leben, wird aber durch die Minderjährigkeit unerreichbar. Lubota ändert sein Leben, um das Unmögliche möglich zu machen, doch scheitert er und lebt in einer Art Kompromiss. In den Vorstudien zu „Phantom“ (1908) hat, nach Lauterbach, der Autor die entsprechenden, auf Ida Orloff bezogenen Tagebuchstellen aus den Jahren 1905/06[21] für die Substitution des Idols, den Zwang zur Aufspaltung eines Temperaments, das ihm als Einheit unfasslich blieb, vermerkt. Die Heilung von dem sinnlichen Fluidum und der zerstörerischen Sexualität Melittas erreicht er nur durch die mütterliche Komplementärfigur der Marie Starke, die schon vom Äußeren her an die junge Marie Thienemann erinnert und die Lubota Halt und Schutz im „Glück natürlicher Kameradschaftlichkeit“ bietet.[22] Lauterbach setzt wegen Lubotas Überlagerung der Realität durch halluzinatorische Vorstellungen Hauptmanns Roman in Beziehung zu Dostojewskijs Raskolnikow[23] und zu Büchners „Lenz“, auf den die Benennung des Protagonisten durch Marie und ihren Vater hinweist. Eine Entsprechung der Ambivalenz des Protagonisten sieht Lauterbach in der Sprache Hauptmanns: „Seine Prosa entspricht dem Vorgang, die Vortragsart reproduziert das Ambiente des voltigierenden Kleinbürgers, Satzbau und Wortwahl vermitteln die Schwüle des Milieus. Die Sprache hat nicht nur eine handlungsstützende Funktion, sie entlarvt auch die Diskrepanz zwischen den Fakten und ihrer Vermittlung durch den Erzähler: Lubota beteuert zu häufig seine Umkehr, als dass man ihm Glauben schenken könnte […] Es scheint nur so, als sei dies seine Rettung. […] Es ist dieser Hin und Her, das der Figur ihren eigenwertigen Umriss verschafft: das Verlangen nach einer Neuverankerung in der Bürgerlichkeit einerseits und die in den Wahn ausufernden Hirngespinste andererseits, die richtige Selbsteinschätzung und die Selbsttäuschung, die Büßerattitüde und die Großmannssucht.“[24] AdaptionPhantom (1922): deutscher Stummfilm von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1922 Literaturs. Literatur Weblinks„Phantom“, S. Fischer Berlin, 1923: https://archive.org/details/bub_gb_baA5AAAAMAAJ/page/n9/mode/2up Einzelnachweise und Anmerkungen
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