Sergei Sergejewitsch Prokofjew, Sohn eines Gutsverwalters, zeigte schon früh musikalisches Talent. Im Alter von vier Jahren erhielt er ersten Klavierunterricht von seiner Mutter, 1896 schrieb er erste Kompositionen. Nachdem ihm in den Sommern der Jahre 1902 und 1903 der Komponist Reinhold Glière Privatstunden erteilt hatte, wurde er Anfang 1904 Alexander Glasunow vorgestellt, der ihm empfahl, sofort ein Studium am Konservatorium zu beginnen. So kam Prokofjew schon im April 1904 als 13-Jähriger Student ans Sankt Petersburger Konservatorium, wo er bis 1914 Komposition, Kontrapunkt, Orchestration, Klavier und Dirigieren unter anderen bei Nikolai Rimski-Korsakow und Anatoli Ljadow studierte. Bereits während des Studiums trat er mit einigen Kompositionen an die Öffentlichkeit und machte sich einen Namen als brillanter Pianist. Bis 1918 blieb er in Russland, reiste viel und gab Konzerte.
Prokofjew mit seiner ersten Ehefrau Lina Prokofjewa und den Söhnen Swjatoslaw (1924–2010) und Oleg (1928–1998)Mira Mendelson und Prokofjew in Moskau, 1946
Aufgrund der schwierigen Situation nach der Oktoberrevolution entschloss sich Prokofjew 1918, Russland zu verlassen, und zog in die USA. Dort gelang es ihm jedoch nicht, Fuß zu fassen, so dass er sich im April 1920 nach einem finanziellen Fiasko in Frankreich niederließ. In den folgenden Jahren lebte er mit Ausnahme der Jahre 1922 und 1923, in denen er in Ettal wohnte, überwiegend in Paris. 1923 heiratete er Carolina Codina (1897–1989), eine spanische Sängerin mit dem Künstlernamen Lina Llubera. Seine vielfältigen Konzertreisen als Dirigent und besonders als Pianist führten ihn 1927 erstmals wieder in die Sowjetunion. Daraufhin beschäftigten ihn immer stärker Gedanken an eine Rückkehr. Nach einigen Jahren des Pendelns zwischen Moskau und Paris ließ er sich 1936 endgültig in Moskau nieder. Zwei Jahre später unternahm er seine letzte Reise ins westliche Ausland. In der Sowjetunion erlebte Prokofjew eine Produktivitätssteigerung. Bei den Weltmusiktagen der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (ISCM World Music Days) gehört er zu den am meisten aufgeführten Komponisten: 1923 wurde in Salzburg die Ouvertüre über ein hebräisches Thema, 1924 in Prag (und später 1957 in Zürich) das Violinkonzert, 1928 in Siena das Quintett für Oboe, Klarinette und Streichtrio, 1946 in London die Ode zum Kriegsende op. 105 und 1947 in Kopenhagen/Lund die Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier aufgeführt.[1][2]
1941 trennte er sich von seiner Familie und zog zu Mira Mendelson, die er 1948 heiratete. 1945 zog er sich bei einem Sturz eine schwere Gehirnerschütterung zu, was zur nachhaltigen Beeinträchtigung seiner Gesundheit führte. Am 10. Februar 1948 wurde Prokofjew vom Zentralkomitee (ZK) der KPdSU in der Parteiresolution „Über die Oper Die große Freundschaft“ als Folge der Schdanowschtschina formalistischer Tendenzen bezichtigt und zu größerer Volkstümlichkeit aufgefordert. Obwohl seine Gesundheit, bedingt durch die Unfallfolgen, in seinen letzten Lebensjahren sehr nachließ, blieb Prokofjew bis zu seinem Tode unermüdlich tätig. Ab 1952 erhielt er eine staatliche Pension.
Prokofjew starb am 5. März 1953, am selben Tag wie Stalin. Prokofjews Tod blieb daher, im Schatten der landesweiten Trauer um den gleichzeitig verstorbenen Diktator, von der Öffentlichkeit fast völlig unbeachtet. Es fanden sich nicht einmal Blumen an seinem Grab. Seine Frau Mira starb 15 Jahre nach ihm und wurde im selben Grab auf dem Nowodewitschi-Friedhof in Moskau bestattet.
Stil
Prokofjew selbst hat seinen Stil als Zusammenspiel von vier Grundlinien erklärt. Die „klassische Linie“ kommt einerseits in seinem Interesse für historisierende Elemente wie alte Tänze, andererseits im Festhalten an traditionellen Formen zum Ausdruck. Wirklich neoklassizistisch komponierte Prokofjew allerdings nur in seiner Klassischen Sinfonie, da er den Neoklassizismus als Verzicht auf eine eigenständige Tonsprache ansah. Die „moderne Linie“ hingegen beinhaltet seine Vorliebe für gewagte Harmonik, Dissonanzen und ungewohnte Akkordkombinationen. Teilweise führt sie bis an die äußersten Grenzen der Tonalität. Als dritte nennt Prokofjew schließlich die „motorische Linie“. Viele seiner Werke sind durch bohrende Rhythmik und wilde Motorik gekennzeichnet. Im Gegensatz dazu steht die vierte „lyrische Linie“. Immer wieder gelang es Prokofjew, Momente von herber Lyrik und leiser Resignation zu schaffen und ausdrucksstarke Melodien zu komponieren. Zu dieser Aufzählung kann man noch ergänzen, dass auch Humor und Ironie in seinem Schaffen eine bedeutende Rolle spielen. Außerdem haben Prokofjews Orchesterwerke einen spezifischen Klang, weil sie häufig durch eine ungewöhnliche Orchestrierung gekennzeichnet sind, so wenn beispielsweise Violinen und Tubaunisono spielen.
Trotz dieser Kontinuität lassen sich drei Schaffensperioden erkennen. Die erste wird häufig als „russische Periode“ bezeichnet, da sie die Werke umfasst, die vor seiner vorübergehenden Emigration entstanden. Die Werke dieser Zeit sind durch eigenwillige Rhythmen, scharfe Dissonanzen, „sarkastischen“ Humor und vitale Kraft gekennzeichnet. Obgleich er eindeutig mit der spätromantischen Tradition bricht, ist sein Stil nicht völlig von der musikalischen Vergangenheit losgelöst, zumal er die Tonalität nicht sprengt. Trotzdem sorgten einige seiner Werke dieser Periode für einen Skandal (wie zum Beispiel die Skythische Suite). Nach einigen entspannteren Werken des Übergangs (1. Violinkonzert, 3. Klavierkonzert) wurde seine Tonsprache in der zweiten Periode, der „Auslandsperiode“ (ab 1918), noch moderner. Die Dominanz der zweiten „Grundlinie“ (s. o.) ist eindeutig erkennbar. Teilweise setzt sich Prokofjew nun über die Tonalität hinweg. Klangballungen und wüste Ausbrüche kennzeichnen viele seiner damaligen Werke. Gleichwohl erreichte er nie die Modernität einiger Zeitgenossen.
Sowjetische Briefmarkenausgabe zum 100. Geburtstag Prokofjews (1991)
Ab Anfang der 1930er Jahre zeichnete sich ein deutlicher Stilwandel ab. Seine volle Ausprägung fand dieser neue Stil nach dem Umzug in die Sowjetunion, weshalb diese Periode als „sowjetische Periode“ bezeichnet wird. Prokofjew war überzeugt, Musik schreiben zu müssen, die einen gesellschaftlichen Auftrag erfüllte. Dies zeichnet sich in der Vereinfachung der Harmonik und den klareren Konturen der Melodien ab. Indem er stärker auf die Traditionen der russischen Volksmusik eingeht, wurde seine Musik verständlicher und zugänglicher. Zudem festigte er die Tonalität und legte Wert auf eine ausgefeilte Polyphonie. Während des Zweiten Weltkrieges wurde seine Tonsprache noch einmal schärfer, was prompt zur oben genannten Kritik in der Parteiresolution „Über die Oper Die große Freundschaft“ führte. Daraufhin vereinfachte Prokofjew seinen Stil noch weiter. Seine letzten Werke sind von weiten Melodien, lyrischer Stimmung, leiser Resignation und einem fast romantischen Tonfall gekennzeichnet.
Prokofjew gilt heute als bedeutender Komponist und Klassiker der Moderne. Bedeutsam war auch sein Wirken als Komponist von Filmmusik. Alexander Newski gilt als vielfach analysiertes Schlüsselwerk der Filmmusikgeschichte. Prokofjews Partitur beeinflusste und prägte die moderne Filmmusik klassisch-romantischen Stils, die vor allem in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eindeutige Stilkopien schuf, häufig sogar direkte Zitate aus Werken Prokofjews verwendete (John Williams, James Horner).
Gewissen Einfluss auf Prokofjews Kompositionstechnik hatten Max Reger, dessen ausgefeilte Modulationskunst Prokofjew beeindruckte, als er 1906 St. Petersburg besuchte, sowie sein Freund seit Studienzeiten Nikolai Mjaskowski, der ihm in einem ausgiebigen Briefwechsel stets seine Meinung zu dessen neuesten Werken mitteilte und auf dessen Urteil Prokofjew großen Wert legte. Insgesamt kann aber kein Komponist genannt werden, an dem sich Prokofjew besonders orientierte; vielmehr schuf er einen eigenen, neuartigen Stil und beeinflusste viele Komponisten der nachfolgenden Generation.
Prokofjew notierte alle seine Partituren in C, d. h. klingend. Für das Englischhorn verwendete er meist den Altschlüssel, wie er schon bei Johann Sebastian Bach zu finden war. Hohe Töne notierte er im Violinschlüssel. Ähnlich verfuhr er beim Fagott, das meist nur den Bassschlüssel erhält. In den jeweiligen Vorworten wies er darauf hin, dass die Stimmen transponiert werden müssen (in der Regel B-Klarinetten und Bassklarinetten, F-Hörner und B-Trompeten). Piccolo und Kontrabass notierte er jedoch klassisch oktavversetzt. Auch setzte er konsequent – wie auch Max Reger und teilweise Schostakowitsch – die Trompeten stets über die Hörner. Den Tenorschlüssel vermied er konsequent bei den Violoncelli. Für hohe Töne nahm er den Violinschlüssel (loco). Die sogenannte 'C-Partitur' setzte sich nicht überall durch; wurde aber doch immer häufiger übernommen (u. a. von Arthur Honegger, später von Alban Berg und Arnold Schönberg. Letztere – Berg und Schönberg – notierten den Kontrabass jedoch in seiner wirklichen Tonhöhe).
Werke
Der in dieser Aufzählung gebrauchte Hinweis „unveröffentlicht“ bezieht sich auf das Notenmaterial, nicht auf das Werk selbst.
Bühnenwerke
Opern
Der Riese, Oper in drei Akten, unveröffentlicht (1900, UA: 1901 in privatem Rahmen)
Auf unbewohnten Inseln, Ouvertüre und drei Szenen zum I. Akt, unveröffentlicht (1900–1902)
Das Gelage während der Pest, I. Akt nach Alexander Puschkin, unveröffentlicht (1903), erste Szene revidiert (1908/09)
Sonate Nr. 3 a-Moll, op. 28 (aus alten Heften), nach Sonate (Nr. 3) (1917)
Sonate Nr. 4 c-Moll, op. 29 (aus alten Heften), nach Sonate (Nr. 5) und Sinfonie e-Moll (1917)
Die Märchen der alten Großmutter, op. 31 (1918)
Vier Stücke, op. 32 (1918)
Marsch und Scherzo aus Die Liebe zu den drei Orangen, op. 33 (1922)
Sonate Nr. 5 C-Dur, op. 38, revidiert als op. 135 (1923)
Divertimento, op. 43 (1938)
Dinge an sich, op. 45, zwei Stücke (1928)
Sechs Stücke, op. 52 (1930/31)
Zwei Sonatinen, op. 54, e-Moll und G-Dur (1931/32)
Drei Stücke, op. 59 (1933/34)
Gedanken (Pensées), op. 62 (1933/34)
Kindermusik, op. 65, zwölf Stücke (1935)
Zehn Stücke aus Romeo und Julia, op. 75 (1937)
Gavotte, op. 77 (1938)
Sonate Nr. 6 A-Dur, op. 82 (1939/40)
Sonate Nr. 7 B-Dur, op. 83 (1939–1942)
Sonate Nr. 8 B-Dur, op. 84 (1939–1944)
Drei Stücke aus Aschenbrödel, op. 95 (1942)
Drei Stücke, op. 96 (1941–1942)
Zehn Stücke aus Aschenbrödel, op. 97 (1943)
Zwei Stücke aus Aschenbrödel, op. 102 (1944)
Sonate Nr. 9 C-Dur, op. 103 (1947)
Sonate Nr. 5 C-Dur, op. 135 (1952/53)
Sonate Nr. 10 c-Moll, op. 137, unveröffentlicht, unvollständig
Sonate Nr. 11, op. 138, nicht ausgeführt
Dumka, unveröffentlicht (nach 1933)
Werke zu 4 Händen
Marsch C-Dur (1897)
Marsch C-Dur (1899)
Marsch F-Dur (1899)
Stück F-Dur (1899)
Stück d-Moll (1900)
Stück mit Zither, unvollständig (1900)
Bagatelle Nr. 1 c-Moll (1901)
Vokalwerke
Vokalwerke mit Orchester
Zwei Gedichte (von K. Balmont) für Frauenchor und Orchester, op. 7, unveröffentlicht (1909/10)
Das hässliche Entlein für Singstimme und Orchester, op. 18 (1923)
Kantate Es sind ihrer Sieben (Chaldäische Beschwörung) für Tenor, gemischten Chor und großes Orchester, op. 30 (1917/18), revidiert (1933)
Mélodie für eine Singstimme und Orchester, op. 35 (um 1920)
Suite aus Der feurige Engel für eine Singstimme und Orchester, op. 37, unveröffentlicht, unvollständig (1923)
Peter und der Wolf für Erzähler und Orchester, op. 67, Sinfonisches Märchen für Kinder (1936)
Kantate zum 20. Jahrestag der Oktoberrevolution für zwei Chöre, Orchester, Blasorchester, Akkordeonorchester und Schlagzeug, op. 74 (Texte von Marx, Lenin und Stalin, 1936/37)[3]
Lieder unserer Tage für Solostimmen, Chor und Orchester, op. 76 (1937)
Der wandernde Turm, deutsche Erstveröffentlichung, Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, 2012, ISBN 978-3-570-58034-9.
Auszeichnungen und Ehrungen
1944 wurde ihm die Goldmedaille (Gold Medal) der Londoner Royal Philharmonic Society verliehen.[4] Insgesamt erhielt Prokofjew sechsmal den Stalinpreis und einmal den Leninpreis. Den Stalinpreis (Zweiter Klasse) erhielt Prokofjew 1943 für die Klaviersonate Nr. 7 B-Dur, op. 83, und den Stalinpreis (Erster Klasse) 1946 für seine Fünfte Symphonie, die Klaviersonate Nr. 8 und das Cinderella-Ballett.[5]
Die Rockband Magnum verwendet „Troika“ als Intro bei ihren Live-Konzerten sowie den Live-Alben.
Greg Lake verwendete Motive aus der Suite für „I believe in Father Christmas“.
Darüber hinaus verwendeten Emerson, Lake and Palmer Teile aus Romeo und Julia, op. 64, für ihren gleichnamigen Song sowie den zweiten Satz der Skythischen Suite, op. 20, für “The Enemy God Dances With The Black Spirits”.
Die britische Band Muse verwendete auf einem Konzert im Londoner Wembley-Stadion einen Auszug aus dem „Tanz der Ritter“ aus Romeo und Julia als Intro und Überleitung zu ihrem Song „Knights of Cydonia“.
Literatur
Sigrid Neef: Die Opern Sergej Prokofjews (= Prokofiew-Studien, 7; Studia slavica musicologica, 45). Verlag Ernst Kuhn, Berlin 2009.
Eckart Kröplin: Frühe sowjetische Oper. Schostakowitsch, Prokofjew. Henschelverlag Kunst und Gesellschaft, Berlin 1985. DNB 870672428.
Friedbert Streller: Sergej Prokofjew und seine Zeit. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1953, 1960; Laaber-Verlag, Laaber 2003, ISBN 3-936000-63-8.
Maria Biesold: Sergej Prokofjew, Komponist im Schatten Stalins. Quadriga-Verlag, Weinheim 1996, ISBN 3-88679-271-4.
Thomas Schipperges: Sergej Prokofjew. Rowohlt, Reinbek 1995; 2., verbesserte Auflage 2005, ISBN 978-3-499-50516-4.
Simon Morrison: The love and wars of Lina Prokofiev. Harvill Secker, London 2013, ISBN 978-1-84655-731-6.
Hermann Danuser, Juri Cholopow, Michail Tarakanow (Hrsg.): Sergej Prokofjew. Festival aus Anlaß des 100. Geburtstages des Komponisten. Laaber, Duisburg 1991, ISBN 3-89007-227-5.
↑Anton Haefeli: Die Internationale Gesellschaft für Neue Musik – Ihre Geschichte von 1922 bis zur Gegenwart. Zürich 1982, S. 480ff
↑Zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution wurde das Werk von der Staatskapelle Weimar, dem Ernst Senff Chor Berlin und Mitgliedern des Luftwaffenmusikkorps Erfurt aufgeführt – siehe Ankündigung (Memento vom 5. August 2018 im Internet Archive) – und beim Label Audite auf CD veröffentlicht.