Thomas Hürlimann wurde als Sohn des späteren BundesratsHans Hürlimann (1918–1994) in Zug geboren. Seine Mutter Marie-Theres Hürlimann-Duft (1926–2001) entstammte der St. Galler CVP-Dynastie Duft. Nachdem Hürlimann die Primarschule in Zug besucht und einen Sommer lang bei seinem Onkel Johannes Duft in der Stiftsbibliothek St. Gallen gearbeitet hatte, trat er in die Stiftsschule Einsiedeln ein, wo er laut eigenen Worten «saure Zeiten» als «kahl rasiertes Mönchlein in knöchellanger Kutte» überstand.
Als Autor debütierte Thomas Hürlimann 1981 mit dem Erzählband Die Tessinerin, erschienen im Zürcher Ammann Verlag. Zum erzählerischen Werk des Autors, der sich immer wieder engagiert mit der jüngeren Schweizer Geschichte auseinandergesetzt hat, gehören auch Das Gartenhaus, Die Satellitenstadt, Der große Kater, Fräulein Stark, Vierzig Rosen und Heimkehr. Dazu kommen Theaterstücke und Komödien, darunter Der Gesandte (über den Schweizer Gesandten in Berlin während des Zweiten Weltkriegs, Hans Frölicher), Der Franzos im Ybrig (1991) oder Das Einsiedler Welttheater, Hürlimanns Version von CalderónsMysterienspielEl Gran teatro del mundo (2000, überarbeitet 2007).
In Heimkehr wird seine Liebesbeziehung zu Katja Oskamp thematisiert, die hier eine wichtige Rolle spielt: Das Meer wirft sie dort an die sizilianische Küste und in die Arme des Erzählers wie Odysseus in jene von Nausika.[6]
Hürlimanns Dramentext Was ihr wollt oder Dreikönigsabend wurde 2019 von Barbara Schlumpf für die Freilichtspiele Luzern inszeniert. Das Stück wurde in Innerschweizer Mundart aufgeführt, alle Schauspieler agierten in Schlittschuhen auf einer Kunsteisfläche. Der Theaterkritiker der NZZ nannte das Resultat «ein kleines Theaterwunder».[7]
Der Roman Der Rote Diamant von 2022 setzt zeitlich da an, wo die Novelle Fräulein Stark endet: beim Eintritt in die Klosterschule Einsiedeln. Wird in der Novelle der Sommer unmittelbar vor den Klosterjahren, den Hürlimann bei seinem Onkel in der Stiftsbibliothek St. Gallen verbracht hat, literarisch verarbeitet, so steht im Roman ganz die Schulzeit im Kloster im Zentrum. Der Blick schrieb: «Geschliffen, glänzend und scharfkantig ist die Sprache, mit der Hürlimann den Klosterschulalltag um 1968 schildert. (…)»[8]
Die Kontroverse um die Novelle Fräulein Stark von 2001
Hürlimanns Novelle Fräulein Stark (2001) löste nach ihrem Erscheinen eine Kontroverse aus. Das Buch, das stark autobiografische Züge trägt, schildert eine Art von Sommerpraktikum eines 13-jährigen Jungen bei seinem Onkel, dem Bibliothekar der Stiftsbibliothek St. Gallen. Zu seinen Aufgaben gehörte auch das Bereitstellen von Filzpantoffeln für die Besucher. Weil er für diese Aufgabe auf die Knie gehen muss, benutzt er auch den Begriff Pantoffelministrant. Er wird bei seiner Arbeit von der frommen Haushälterin des Bibliothekars überwacht: von Fräulein Stark. Diese Schlüsselfigur der Novelle hiess auch im wirklichen Leben Fräulein Stark. Dass sich der Junge besonders für die Besucherinnen interessiert und versucht, ihnen mittels eines Taschenspiegels unter die Röcke zu gucken, entgeht ihr nicht.
Der Bibliothekar in der Novelle hat Ähnlichkeiten mit dem ehemaligen Stiftsbibliothekar von St. Gallen, Johannes Duft, der auch der Onkel des Autors ist. Duft fühlte sich als Opfer eines Schlüsselromans und verfasste deshalb eine zehnseitige Streitschrift (Bemerkungen und Berichtigungen; als Privatdruck erschienen), in der er Hürlimann unter anderem als «verwöhntes Herrensöhnchen» bezeichnete.[9]
Eine weitere Kontroverse entspann sich über den Vorwurf des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki, der in der Sendung Das Literarische Quartett vom 24. August 2001 dem Autor versteckten Antisemitismus vorwarf. Im Buch von Hürlimann finden sich Hinweise auf die jüdische Herkunft seiner fiktiven Hauptfigur. Der Historiker Jo Lang verteidigte den Autor und sagte, dieser habe «hervorragend erfasst, was den katholischen Antisemitismus ausmacht, und er hat das auf brillante Art dargestellt.»[10]
Das Theater St. Gallen verwendete den Stoff von Hürlimanns Novelle im Frühjahr 2003 für ein Bühnenstück. Der Regisseur Georg Scharegg inszeniert den Stoff dabei als Hauptprobe für ein Hörstück.[11]
Ähnliche Diskussionen musste Hürlimann bereits nach der Veröffentlichung seines Romans Der große Kater (1998; verfilmt 2010) führen, bei dem sein Vater als literarisches Vorbild diente.
2012: Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste für sein Werk, mit dem er „dem Wissen von der Zerbrechlichkeit des Daseins eine tiefe Humanität entgegensetze“.[14]
Der letzte Gast. Komödie. UA: Schauspielhaus Zürich 1991; Ammann, Zürich 1990, ISBN 3-250-01034-0.
Der Gesandte. UA: Schauspielhaus Zürich 1991; Ammann, Zürich 1991, ISBN 3-250-01063-4.
De Franzos im Ybrig. Komödie. UA: Kloster Einsiedeln 1991; Ammann, Zürich 1996, ISBN 3-250-10286-5.
Innerschweizer Trilogie: De Franzos im Ybrig. Komödie – Dämmerschoppen. Novelle – Lymbacher, nach Inglin. Stück. Ammann, Zürich 1991, ISBN 3-250-01044-8.
Güdelmäntig. Komödie. UA: Kloster Einsiedeln 1993; Kulturverein Chärnehus, Einsiedeln; Ammann, Zürich 1993, ISBN 3-909060-10-2.
Der Franzos im Ybrig. Komödie (hochdeutsche Fassung). UA: Schauspielhaus Zürich 1995; Ammann, Zürich 1996, ISBN 3-250-10286-5.
Das Lied der Heimat. Stück. UA: Schauspielhaus Zürich 1998; Ammann, Zürich 1998, ISBN 3-250-10390-X.
Das Lied der Heimat. Alle Stücke. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1998, ISBN 3-596-14277-6.
Stichtag. Oper. UA: Zürich 1998.
Das Einsiedler Welttheater. Nach Calderón de la Barca. UA: Kloster Einsiedeln 2000; Ammann, Zürich 2000, ISBN 3-250-10424-8.
Synchron. UA: Schauspielhaus Zürich 2002; in: Theater Theater. Aktuelle Stücke 12. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-15664-5.
Das Einsiedler Welttheater 2007. Nach Pedro Calderón de la Barca. UA: Kloster Einsiedeln 2007; Ammann, Zürich 2007, ISBN 978-3-250-10512-1.
Das Luftschiff – Komödie einer Sommernacht. UA: Luzerner Freilichtspiele, Tribschen 2015.[19]
Essays
Das Holztheater. Geschichten und Gedanken am Rand. Ammann, Zürich 1997, ISBN 3-250-60001-6.
Himmelsöhi, hilf! Über die Schweiz und andere Nester. Ammann, Zürich 2002, ISBN 3-250-30010-1.
Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand. Ammann, Zürich 2008, ISBN 978-3-250-60125-8.
Abendspaziergang mit dem Kater. S. Fischer, Frankfurt am Main 2020, ISBN 978-3-10-397040-1.
Sprechoper
Güdelmäntig. Sprechoper für einen Schauspieler, Chor und Orchester. Musik: John Wolf Brennan. UA: Aarau 2002; Musica Vocalis Rara, Bläsersolisten Aargau. Ammann, Zürich 2001.
Einsiedeln. Thomas Hürlimann erzählt seine Kindheit und Jugend im Kloster. Konzeption und Regie: Joachim Leser, Klaus Sander. Sprecher: Thomas Hürlimann, 2 CDs. Supposé, Wyk auf Föhr 2020, ISBN 978-3-86385-201-6.[20]
Hans Steinegger (Red.): Literaturpreis der Innerschweiz 1992: Thomas Hürlimann. Schwyz 1992.
Hans-Rüdiger Schwab (Hrsg.): «… darüber ein himmelweiter Abgrund». Zum Werk von Thomas Hürlimann. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010, ISBN 978-3-596-18780-5.
Philippe Wellnitz: «Das Lied der Heimat : Zu Thomas Hürlimanns Theater der Jubiläumsjahre 1991/1998», in: Vilas-Boas, Gonçalo (Hg.) Partir de Suisse, revenir en Suisse. Von der Schweiz weg, in die Schweiz zurück [= Collection Helvetica 5], Presses Universitaires de Strasbourg 2003, S. 231–242.
Philippe Wellnitz: Thomas Hürlimanns Theater : ein Dialog mit der Heimat Schweiz. In: Michael Stolz et al. (Hrsg.): Germanistik in der Schweiz (Zeitschrift der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik), 2013, Heft 10, S. 419–429.
Christoph Gellner: «… das, was über und hinter den Dingen liegt» – Theodizee und Transzendenz bei Thomas Hürlimann. In: ders.: Die Bibel ins Heute schreiben. Erkundungen in der Gegenwartsliteratur. kbw Bibelwerk, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-460-08631-9, S. 126–144.
Audio
Radio SRF 3 Focus: Thomas Hürlimann: «Manchmal vergesse ich den Krebs». 2019. Redaktion und Moderation: Anita Richner[22]
↑Thomas Hürlimann: Es geschah mitten im Indischen Ozean. Vor Jahren verliebte ich mich auf hoher See in eine Inderin. Als Fata Morgana sah ich sie wieder auf der Rigi. NZZ, Feuilleton, 3. Februar 2020
↑Roman Bucheli: "Griff zwischen die Beine. Die Schriftstellerin Katja Osterkamp rechnet in ihrem Roman mit dem einstigen Geliebten Thomas Hürlimann ab", NZZ vom 9. September 2024, S. 32