Von vielen Zoologen wird heute der Begriff Schädeltiere (Craniata, auch Craniota) für dieses Taxon bevorzugt. Diese Auffassung berücksichtigt, dass die Rundmäuler, wie auch einige andere Wirbeltiere, als Achsenskelett keine Wirbelsäule, sondern eine Chorda dorsalis haben. Allen Wirbeltieren gemein ist ein verknöcherter oder knorpeligerSchädel; sein Vorhandensein gehört somit zu den gemeinsam abgeleiteten Merkmalen (Synapomorphien) dieser Chordaten-Gruppe.
Die Monophylie der Wirbeltiere wird durch einige gemeinsame abgeleitete (neue) Grundplanmerkmale (Synapomorphien) unterstützt:
Mehrschichtige Epidermis: Die Epidermis differenziert sich in mehrere übereinander liegende Zellschichten. Innerhalb der Wirbeltiere kommt es zur Ausbildung der „Haut“ mit mehreren Schichten und zugehörigen Strukturen wie Schuppen, Federn etc.
Neurocranium: Das Gehirn und die großen Sinnesorgane werden von einer Kapsel geschützt (Hirnschädel).
Neuralleiste: Eine embryonale Struktur aus pluripotenten Zellen, welche aus dem Ektoderm an der Grenze zwischen epidermalem Ektoderm und neuralem Ektoderm hervorgehen. Sie bilden unter anderem Skelettstrukturen des Kopfes, Pigmentzellen, Nervenzellen wie Rohon-Beard-Zellen, Ganglien und Odontoblasten.
Plakoden: Verdickungen der embryonalen Epidermis. Zellen der Plakoden sind an der Ausbildung neuraler Organe beteiligt.
Gehirn: Der vordere Teil des Neuralrohres ist zu einem (mehrteiligen) Gehirn ausdifferenziert.
Gehirnnerven: Im Grundplan zehn Nerven völlig unterschiedlicher Natur, welche das Gehirn mit der Peripherie verbinden. Sie sind innerhalb der gesamten Wirbeltiere recht konstant vorhanden.
Blutgefäßsystem: Das Herz-Kreislauf-System ist ein in sich (fast vollständig) geschlossenes System.
Nieren: Zentrales Harnorgan (renale Exkretion) der Wirbeltiere
Wirbeltieraugen: Hoch entwickeltes und komplexes Sinnesorgan zur Wahrnehmung optischer Reize
Spinalganglien: Den Spinalnerven können Ganglien zugeordnet werden.
Verbreitung und Zahl der Arten
Wirbeltiere sind weltweit verbreitet. Sie leben auf allen Kontinenten einschließlich der Antarktis, im Meer bis in die Tiefsee, in Süßgewässern, und an Land in allen Biotopen einschließlich der Hochgebirge. Vögel und Fledermäuse verfügen über die Fähigkeit zum aktiven Flug, was die Ausbreitung begünstigt. Die Artenvielfalt ist in den tropischen Regenwäldern am höchsten (Amazonasgebiet, Gebiete in Afrika und Südostasien).
Heute gibt es über 70.000 Wirbeltierarten, mehr als die Hälfte davon sind Fische. Dies sind nach Schätzungen etwa ein Prozent aller Wirbeltierarten, die im Verlauf der Evolution erschienen sind. Die Zahl liegt deutlich höher als in älteren Quellen angegeben wurde, z. B. gab die IUCN für 2004 noch 57.739 bekannte Wirbeltierarten an.[2] Jedes Jahr werden mehrere hundert Wirbeltierarten neu entdeckt, so sind seit 1982 etwa 1246 neue Säugetierarten,[3] seit 1996 etwa 7407 neue Fischarten[4], seit 2004 etwa 2010 Amphibienarten[5] und seit 2008 etwa 1716 Reptilienarten[6] bis zum Jahr 2016 neu beschrieben worden. Daneben sind weltweit bisher mehrere zehntausend fossile Arten entdeckt worden.[7]
Körpergrößen
Wirbeltiere sind insgesamt betrachtet deutlich größer als wirbellose Tiere. Die meisten wirbellosen Tiere werden nur wenige Zentimeter groß, sehr häufig werden die Größen in Millimeter angegeben. Ausnahmen unter den Wirbellosen sind nur die Kopffüßer, einige Krebstiere (Hummer, Langusten) und Riesenmuscheln. Wirbeltiere von wenigen Zentimetern Größe gehören dagegen immer zu den kleinsten Arten ihres Taxons.
Die kleinsten im Wasser lebenden Wirbeltiere sind einige Grundeln (z. B. Schindleria brevipinguis) und Karpfenfische (z. B. Paedocypris progenetica mit einer Länge von 7,9 mm beim Weibchen und 10 mm beim Männchen), kleinstes Landwirbeltier der Frosch Paedophryne amauensis (mit einer Länge von 7,7 mm).[8] Die Etruskerspitzmaus (Suncus etruscus) mit einer Rumpflänge von 2 cm und einem Gewicht von 1 g und die Hummelfledermaus (Craseonycteris thonglongyai) mit einem Gewicht von 1,5 bis 3 g gelten als die kleinsten Säugetiere.
Das größte Wirbeltier ist der Blauwal (Balaenoptera musculus) mit einer Maximallänge von 33 Metern und einem Maximalgewicht von 200 Tonnen. Das größte rezente an Land lebende Wirbeltier ist der Afrikanische Steppenelefant (Loxodonta africana) mit einem Maximalgewicht von 7 Tonnen. Die größten ausgestorbenen Wirbeltiere des Festlandes waren die Sauropoden (Sauropoda), eine sehr artenreiche Gruppe der Dinosaurier.
Voraussetzungen für diese Größenzunahme bei den Wirbeltieren waren ihr einzigartiges, aus Knochen und Knorpel bestehendes Innenskelett, die Entwicklung einer sehr leistungsfähigen Muskulatur und das geschlossene Herz-Kreislauf-System.
Lebensalter
Einige Wirbeltiere erreichen ein Lebensalter, das weit über das übliche Maß der höheren Tiere hinausgeht. Seit einiger Zeit ist bekannt, dass Grönlandwale mehr als 200 Jahre alt werden können. Neuerdings wurde für den Grönlandhai eine Lebenslänge von über 270 Jahren festgestellt, es gilt als wahrscheinlich, dass die Tiere sogar mehr als 400 Jahre alt werden können.[9]
Systematik und Evolution
Äußere Systematik
Die Wirbeltiere haben in der konventionellen biologischen Systematik den Rang eines Unterstamms. Zusammen mit den Manteltieren (Tunicata) und den artenarmen Schädellosen (Acrania/Cephalochordata) bilden sie den Stamm der Chordatiere (Chordata).
Nach der Notochordata-Urochordata-Hypothese gelten die Wirbeltiere als Schwestergruppe der Schädellosen, daher werden sie oft auch als „Schädeltiere“ (Craniota oder Craniata) bezeichnet.[10][11][12] Die alternative, erst später erschienene Olfactores-Cephalochordata-Hypothese besagt hingegen, dass die Manteltiere (Urochordata/Tunicata) die Schwestergruppe der Wirbeltiere sind. Zusammen bilden sie die KladeOlfactores, welche die Schwestergruppe der Schädellosen bildet.
Das nachfolgende Kladogramm stellt die Olfactores-Cephalochordata-Hypothese, die heute breiter akzeptiert ist,[13][14][15] grafisch dar.
Früher wurden die Wirbeltiere nach dem Kriterium unterteilt, ob ein Kiefer vorhanden ist oder nicht. Dieser Ansatz ist überholt: Den Kiefermäulern (Kiefertieren) werden heute nicht mehr die Kieferlosen (Agnatha) gegenübergestellt, sondern die Rundmäuler (Cyclostomata).
Die innere Systematik der Wirbeltiere bleibt jedoch umstritten, insbesondere die Frage, ob ein Schwestergruppenverhältnis zwischen Kiefermäulern und Neunaugen besteht oder zwischen Schleimaalen und Neunaugen:
Schleimaale + (Kiefermäuler + Neunaugen)
(Schleimaale + Neunaugen) + Kiefermäuler
Ein 2019 beschriebenes, fast vollständiges und gut erhaltenes Fossil eines etwa 100 Millionen Jahre alten Schleimaals zeigt, dass sie schon in der Kreidezeit den heutigen Arten ähnelten und näher mit den Neunaugen verwandt sind als mit den kiefertragenden Wirbeltieren.[17]
Die folgende Darstellung berücksichtigt auch ausgestorbene Gruppen (mit einem † gekennzeichnet). Die klassischen Großgruppen sind fett hervorgehoben. Man beachte, dass die Landwirbeltiere (Vierfüßer) und die Echten Knochenfische je fast 50 % der Biodiversität der Wirbeltiere ausmachen, während alle anderen Gruppen deutlich artenarmer sind.
Wirbeltiere (Vertebrata): mehr als 78 000 Arten[18]
Die heutige Diversität der Wirbeltiere entspricht nur einem geringen Teil der gesamten Formenvielfalt, die die Evolution während der Erdgeschichte hervorgebracht hat. Zwar sind die verwandtschaftlichen Beziehungen der heutigen Wirbeltiere anhand genetischer Studien weitgehend gut bekannt. Doch erst durch paläontologische Untersuchungen an fossilen Arten kann ein genaueres Verständnis über die Entstehungsgeschichte der heute zu beobachtenden Gruppen erreicht werden. Wichtige Erkenntnisse hierzu liefern die sogenannten Mosaikformen („Übergangsformen“), welche morphologische Merkmale verschiedener Taxa vereinen.
In den nachfolgenden Kladogrammen sind ausgestorbene Taxa/Gruppen jeweils mit einem Kreuz (†) markiert, während Gruppen, die bis heute überlebt haben, in Fettschrift hervorgehoben sind. Einfachheitshalber sind gewisse ausgestorbene Gruppen in den unteren Kladogrammen weggelassen. Unsichere Verwandtschaftsbeziehungen sind teils durch Polytomien angedeutet. Der Stammbaum der Wirbeltiere ist Gegenstand andauernder Forschung. Die verwandtschaftlichen Beziehungen der unten aufgeführten Gruppen können je nach Studie variieren.
Die ausgestorbenen, oft stark gepanzerten, kieferlosen Fische des Paläozoikums werden als „†Ostracodermi“ (†Pteraspidomorphi, †Anaspida, †Galeaspida, †Pituriaspida, †Osteostraci) zusammengefasst, die gepanzerten, kiefertragenden als „†Placodermi“ (†Antiarchi, †Petalichthyida, †Arthrodira, †Ptyctodontida). Beide Gruppen sind jedoch keine monophyletischen Taxa, wie dem nachfolgenden Kladogramm entnommen werden kann.[32] Ebenso wenig werden die „†Acanthodii“ (z. B. †Diplacanthus, †Brochoadmones, †Acanthodes) noch als monophyletische Gruppe betrachtet.[33] Die Vertreter dieser Gruppe stehen teilweise basal zu den Knorpelfischen, teilweise basal zu den Knochenfischen, und teilweise basal zu den Teleostomi (Stammgruppe). Die oben genannten, frühen, fischartigen Formen zeigen die Evolution des Schädels (z. B. Kiefer)[34] und der paarigen Flossen.[35][28][19]
Die Zugehörigkeit der ausgestorbenen, kieferlosen †Conodonten (Paläozoikum bis Trias) zu den Vertebrata ist unter Fachleuten umstritten.[36][37]
Die ersten Landwirbeltiere waren Amphibienartige. Rezente Amphibien (Froschlurche, Schwanzlurche, Blindwühlen) gehören zur monophyletischen KladeLissamphibia. Die verwandtschaftlichen Beziehungen der Lissamphibia zu den ausgestorbenen Amphibiengruppen ist umstritten. Die Temnospondyli-Hypothese besagt, dass sie von den Temnospondyli abstammen,[38] während die Lepospondyli-Hypothese postuliert, dass sie Abkömmlinge der Lepospondyli sind.[39] Die erste Hypothese wird von einer Mehrheit der Fachleute als die Wahrscheinlichere betrachtet.
Aus Vertretern der prähistorischen reptilähnlichen Amphibien (z. B. †Diadectomorpha) sind die Amnioten (Nabeltiere) hervorgegangen. Anders als Amphibien sind die Amnioten für die Fortpflanzung nicht mehr auf Gewässer angewiesen. Von diesen frühen Amnioten haben zwei Linien (Kladen) bis heute überlebt, die Sauropsiden (Reptilien, Vögel) und die Synapsiden (Säugetiere).[28]
Synapsiden waren im Oberkarbon und Perm artenreich („Pelycosaurier“, frühe Therapsiden). Während des Mesozoikums führten sie unter den Dinosauriern (Sauropsiden) ein Schattendasein. Im Känozoikum erfuhren die Säugetiere ihre Blüte. Mit den Walen und Delfinen und anderen sekundär aquatischen Arten (z. B. Robben) eroberten sie nun auch erstmals die Meere.
Rezente Reptilien stellen im kladistischen Sinne eine paraphyletische Gruppe dar. Während die Brückenechse (Tuatara) und die Schuppenkriechtiere zu den Schuppenechsen (Lepidosauria) gehören, so zählt man die Krokodile und Vögel zu den Archosauriern.[28] Schildkröten sind wahrscheinlich näher verwandt mit den Archosauriern als mit den Schuppenechsen.[40] Alle heutigen Reptilien, einschließlich der Vögel, werden der Großgruppe der Sauropsiden untergeordnet. Zu den fossilen Vertretern der Sauropsiden zählen beispielsweise die †Parareptilien, †Mesosaurier, †Captorhinidae, †Weigeltisauridae, †Fischsaurier, †Flossenechsen, †Erythrosuchier, †Tanystropheidae, †Rhynchosaurier, †Euparkeriidae und †Mosasaurier. Mehrere unabhängige Entwicklungslinien (Kladen) der Sauropsiden wurden sekundär aquatisch oder entwickelten Anpassungen für das Fliegen/Gleiten.[28] Alle heutigen Sauropsiden gehören zur Untergruppe der Diapsiden, die insbesondere im Mesozoikum eine große Formenvielfalt aufwiesen.[41][42]
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