Die 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin (Berlinale) fanden vom 20. Februar bis 1. März 2020 statt. Sie standen zum ersten Mal unter der Leitung von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, die offiziell am 1. Juni 2019 als Doppelspitze den bisherigen Festivalchef Dieter Kosslick ablösten. Während Chatrian für die künstlerische Leitung zuständig war, übernahm Rissenbeek den Bereich Geschäftsführung. Im Vergleich zu den vorherigen Auflagen wurde der Termin des Filmfestivals auf Ende Februar verschoben, wodurch die Berlinale erstmals seit der Terminierung im Februar kurz nach der Oscarverleihung stattfand.[1] Mit der Weltpremiere des in die Sektion Berlinale Special eingeladenen Spielfilms Mein Jahr in New York von Philippe Falardeau wurde die Berlinale eröffnet.[2]
Jurypräsident des Wettbewerbs, in dem unter anderem der Goldene Bär für den besten Film des Festivals vergeben wird, war in diesem Jahr der britische Schauspieler Jeremy Irons. Mit dem Hauptpreis wurde die internationale Koproduktion Sheytan vojud nadarad (internationaler Festivaltitel: There Is No Evil / Es gibt kein Böses) von Mohammad Rasulof ausgezeichnet. Eine Teilnahme am Festival war dem iranischen Regisseur nicht möglich, da er nicht aus seinem Heimatland hatte ausreisen dürfen.
Als Moderator der Eröffnungsgala und der Preisverleihung wurde der Schauspieler Samuel Finzi verpflichtet.[3]
Ab Mitte Dezember 2019 wurden erste Filme in den verschiedenen Sektionen des Festivals bekanntgegeben. Das vollständige Programm wurde am 11. Februar 2020 veröffentlicht.[4] Zur 70. Festivalauflage entstand mit Encounters eine neue Wettbewerbssektion. Die Sonderreihen NATIVe (Präsentation indigener Filme) und Kulinarisches Kino wurden abgeschafft.[5] Auch wechselten die Leitungen in den Sektionen Panorama, Berlinale Shorts, Forum und Berlinale Series sowie die Auswahlkomitees für den Internationalen Wettbewerb um den Goldenen Bären und des Forums.
Die britische Schauspielerin Helen Mirren wurde im Rahmen des Festivals mit dem Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk sowie einer Hommage aus fünf Filmen geehrt.[6] Die diesjährige Berlinale Kamera ging an die deutsche Filmemacherin Ulrike Ottinger, die ihren neuen Dokumentarfilm Paris Calligrammes als Beitrag in der Sektion Berlinale Special präsentierte.[7]
Ende Januar 2020 entschlossen sich die Veranstalter, die Vergabe des 1987 initiierten Alfred-Bauer-Preises auszusetzen. Durch in der Zeit veröffentlichte Recherchen war bekannt geworden, dass Bauer wahrscheinlich eine bedeutende Position in der NS-Zeit innehatte.[8]
Die Berlinale 2020 hatte ein vorläufiges Jahresbudget von 26 Millionen Euro. Ein Anteil von 8,4 Millionen Euro stammte aus Mitteln der institutionellen Förderung der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien.[9]
Als Jury-Präsident wurde im Januar 2020 Jeremy Irons präsentiert. Der britische Film- und Theaterschauspieler war erstmals 2011 mit dem Wettbewerbsbeitrag Der große Crash – Margin Call bei der Berlinale zu Gast. 2013 verkörperte Irons die Hauptrolle in dem außer Konkurrenz gezeigten Film Nachtzug nach Lissabon.[10] Er trat bislang in mehr als 90 Film- und Fernsehrollen in Erscheinung, übernahm darin häufig die Rolle des Bösewichts und wurde von der Kritik als „Ikone des internationalen Autorenkinos“ und „Meister der Ambivalenz“ gefeiert.[11]
Irons war wegen früherer umstrittener Äußerungen zur gleichgeschlechtlichen Ehe, Abtreibung und weil er 2009 eine Petition für den mit Vergewaltigungsvorwürfen konfrontierten Filmemacher Roman Polański unterschrieben hatte, in die Kritik geraten.[12] Er hatte sich mehrfach für seine Äußerungen entschuldigt[13] und am Eröffnungstag im Rahmen einer Pressekonferenz unmissverständlich zu Frauenrechten und Diversität bekannt.[14]
Dem Jury-Präsidenten stehen bei der Vergabe der Preise mehrere Jurymitglieder zur Seite, die am 4. Februar 2020 benannt wurden:[15]
Die Filmauswahl im Wettbewerb wurde am 29. Januar 2020 während einer offiziellen Pressekonferenz von Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek bekanntgegeben. Insgesamt konkurrieren 18 Filme um den Goldenen Bären.[16]
Filme, die bisher außer Konkurrenz liefen, werden künftig als Berlinale Special Gala präsentiert. Die Originalfassung von Der verrückte Professor (1963) wird anlässlich der Übergabe von exklusiven Dokumenten aus dem Nachlass von Jerry Lewis (1926–2017) an die Deutsche Kinemathek in Anwesenheit von dessen Sohn Chris Lewis gezeigt.[17] Bislang bekanntgegebene Filme (inkl. Berlinale Special):[18][19][20][17][16]
Als neue Leiterin der Sektion wurde Julia Fidel berufen, die bislang für die Sektion Panorama sowie für das Auswahlkomitee der Generation mitverantwortlich war.[21] Eröffnet werden soll die Sektion mit drei 55-minütigen Folgen der Serie Freud, dem ersten gemeinsamen Projekt des ORF mit dem Streaming-Anbieter Netflix.[22][23]
Die sich an akkreditiertes Fachpublikum richtenden Drama Series Days werden 2020 in Berlinale Series Market umbenannt.[21]
Encounters
Die neue Wettbewerbssektion Encounters (dt.: „Begegnungen“) soll „ästhetisch und formal ungewöhnliche Werke von unabhängigen Filmemachern“ präsentieren. Es sollen maximal 15 Spiel- oder Dokumentarfilme als Welt- oder internationale Premieren ab einer Laufzeit von 60 Minuten gezeigt werden. Eine dreiköpfige Jury entscheidet über Auszeichnungen für den besten Film, die beste Regie sowie einen Spezialpreis der Jury. Der künstlerische Leiter Carlo Chatrian begründete diesen Schritt damit, dass die technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen „die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, Filmessay und Genre, weniger starr und durchlässiger gemacht“ hätten.[5]
Das Programm wurde am 17. Januar 2020 bekanntgegeben. Als Eröffnungsfilm wurde Malmkrog von Cristi Puiu ausgewählt.[24]
In der Reihe Berlinale Shorts werden Spiel-, Dokumentar-, Experimental- und Animationsfilme mit einer Maximallänge von 30 Minuten (inkl. Abspann) gezeigt. Internationale Beiträge dürfen vor der Berlinale-Aufführung noch nicht außerhalb ihres Entstehungslandes gezeigt worden sein.[25] Nach Berufung der langjährigen Sektionsleiterin Maike Mia Höhne zur künstlerischen Leiterin des Internationalen KurzFilmFestivals Hamburg übernahm die Programmerin, Moderatorin und Kuratorin Anna Henckel-Donnersmarck ab 1. Juni 2019 die Leitung.[26]
2020 gehören der Internationalen Kurzfilmjury die ungarische Animationsfilmerin Réka Bucsis, die türkische Kuratorin Fatma Çolakoğl und der Filmemacher Lemohang Jeremiah Mosese aus Lesotho an.[27] Neben dem Goldenen Bär für den besten Kurzfilm und dem Silbernen Bär vergibt die Jury eine Nominierung für den Europäischen Kurzfilmpreis und den Audi Short Film Award.
Die Beiträge des Kurzfilmwettbewerbs – 24 Filme aus 18 Ländern – wurden am 14. Januar 2020 bekanntgegeben:[27]
Die Leitung der Sektion übernahm Michael Stütz, der zuvor als Programmmanager und Kurator für das Panorama tätig war. Die frühere Sektionsleiterin Paz Lázaro wechselte ins Auswahlkomitee für den Wettbewerb.[26]
Eine erste Auswahl an Dokumentar- und Spielfilmen wurde am 17. Dezember 2019 bekanntgegeben. Als erste Schwerpunkte wurden u. a. „Filmemacher*innen einer aufstrebenden, eigenwilligen Generation“ mit pluralen, postmigrantischen Sichtweisen (Faraz Shariat, Uisenma Borchu, Visar Morina), „aktuelles transnationales Filmschaffen“ (Pari) und die Verfolgung der LGBTQI*-Community(Achtung Lebensgefahr! – LGBT in Tschetschenien) genannt.[28] Das Programm wurde am 21. Januar 2020 ergänzt, wobei die Auswahl von der Sektionsleitung mit „Filmemacher*innen und Protagonist*innen stellen sich gegen Autoritäten“ umschrieben wurde.[29] Nachnominiert wurde der Schweizer Dokumentarfilm Saudi Runaway von Susanne Regina Meures.
Die Filmkritikerin, Autorin und Kuratorin Cristina Nord übernahm am 1. August 2019 die Leitung der Sektion.[30] Sie setzte ein neues Filmauswahlkomitee aus fünf Experten ein.[31]
Die Nebenreihe Forum Expanded wird weiterhin von Stefanie Schulte Strathaus geleitet.[30]
Im Jahr 2020 findet das Forum zum 50. Mal statt. Aus diesem Anlass zeigt die Berlinale das vollständige Programm des Gründungsjahres 1971, verbunden mit einem Rahmenprogramm, das die Bedeutung des ersten Jahres für die Gegenwart und die Entwicklung der Sektion zur Diskussion stellt.[32]
Aktuelles Programm
Das Programm wurde am 20. Januar 2020 bekanntgegeben. Als Eröffnungsfilm wurde EL TANGO DEL VIUDO y su espejo deformante von Raúl Ruiz und Valeria Sarmiento ausgewählt. Das aktuelle Programm umfasst 35 Filme, darunter 28 Weltpremieren. Umschrieben wird es mit vielen Beiträgen, die „nach Wegen suchen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart […] vermitteln“.[33]
Das Filmprogramm zum 50. Jahrestag der Sektion Forum.[34] Nachnominiert wurde der deutsche Anti-Kriegsfilm o.k., der 1970 zum Abbruch der Berlinale und nachfolgend auch zur Gründung des Forums führte.[35]
Les yeux ne veulent pas en tout temps se fermer ou Peut-être qu’un jour Rome se permettra de choisir à son tour (Othon) (Die Augen wollen sich nicht zu jeder Zeit schließen oder Vielleicht eines Tages wird Rom sich erlauben seinerseits zu wählen (Othon))
Diese Berlinale-Sektion zeigt für Kinder und Jugendliche geeignete internationale Filmproduktionen. Zugelassen waren Langfilme mit einer Laufzeit von mindestens 60 Minuten und Kurzfilme mit maximal 20 Minuten Spieldauer, die innerhalb von zwölf Monaten vor Festivalbeginn fertiggestellt wurden. Ausländische Produktionen dürfen vorab auf einem außereuropäischen Festival gezeigt, im Ursprungsland im Fernsehen ausgestrahlt oder über Video-on-Demand vertrieben werden. Europäischen Filmen (ausgenommen deutschen Produktionen) ist es vorab erlaubt, im Ursprungsland, auf einem nationalen Festival bzw. expliziten Kinder- bzw. Jugendfilmfestival veröffentlicht oder eine nationale Kinoauswertung erfahren zu haben.[36] Sektionsleiterin ist Maryanne Redpath. 2020 umfasst die Sektion 59 Wettbewerbsbeiträgen, darunter 29 Weltpremieren und elf Debütfilmen aus 34 Ländern. Der Regisseurinnen-Anteil der eingeladenen Filme beträgt 58 Prozent.[37][38]
Als Auszeichnung wird je ein Gläserner Bär von einer Kinder- (elf Berliner Kinder im Alter von 11 bis 14 Jahren) und einer Jugendjury (sieben Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren) an einen Spielfilm und eine Dokumentation vergeben. Separat existiert eine internationale Generation-Kplus-Jury, die vom Deutschen Kinderhilfswerk gestiftete Geldpreise für den besten Lang- und Kurzfilm vergibt. Eine weitere internationale Jury vergibt im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung ebenfalls einen Großen Preis für den besten Langfilm und einen Spezialpreis für den besten Kurzfilm.
Die auf Anregung von Dieter Kosslick 2002 entstandene Sektion Perspektive Deutsches Kino präsentiert sowohl kurze als auch lange Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilme von deutschen Nachwuchsfilmemachern mit einer Mindestlänge von 20 Minuten. Sie richtet sich an talentierte Regisseure, die am Beginn ihrer Laufbahn stehen. Eine vorherige Teilnahme der Beiträge an einem Filmfestival ist kein Ausschlusskriterium. Sektionsleiterin Linda Söffker, die aus über 200 eingereichten Beiträgen eine Auswahl traf, umriss das Programm mit „agierende Frauen, die in kleinen und großen Zusammenhängen die Geschicke der Welt bewegen und ihre eigene Vorstellung von Heimat haben“.[39][40] Als Premierenkino für die Sektion fungiert 2020 erstmals das Kino International.[40]
Unter den Beiträgen werden der Kompass-Perspektive-Preis (dotiert mit 5.000 Euro, Jury: Mia Spengler, Bernd Lange und Melanie Andernach), „Kompagnon“-Förderpreis (Stipendium von 5.000 Euro / 2.500 Euro für Kurzfilme) und der Heiner-Carow-Preis vergeben.[39]
Der amerikanische Regisseur, Produzent und Drehbuchautor King Vidor (1894–1982) wird im Zentrum der Retrospektive stehen. Rainer Rother, Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen und Leiter der Retrospektive, erläuterte die Wahl: „Anhand von King Vidors Werk lässt sich nicht nur die Geschichte Hollywoods über 50 Jahre hinweg nachvollziehen, sondern auch die der Vereinigten Staaten in jenem Zeitraum: Von Anfang an griff Vidor in seinen Filmen bedeutende Ereignisse und aktuelle politische Entwicklungen vom Ersten Weltkrieg über die Weltwirtschaftskrise bis zum New Deal auf.“ Carlo Chatrian über Kings Bedeutung für die Filmgeschichte, aber auch die Gegenwart: „King Vidor war überzeugt von der Menschlichkeit, die das Kino seinem Publikum vermitteln kann, und hat zu diesem Zweck immer wieder neue filmische Mittel entwickelt. Das macht ihn heute – vielleicht mehr als andere Altmeister, deren Stil klar identifizierbar ist, – zu einer Inspirationsquelle für all diejenigen, die unsere sich rapide verändernde Welt erzählen möchten.“[42]
Daneben werden in der Reihe Berlinale Classics neue Restaurierungen von Filmklassikern und wiederentdeckte Werke ins Programm genommen. Als Eröffnungsfilm für den 21. Februar 2019 wurde die digital restaurierte Fassung von Paul Lenis Stummfilmklassiker Das Wachsfigurenkabinett (1924) ausgewählt.[43]
Sektionsübergreifende Jurypreise
Berlinale Dokumentarfilmpreis
Die mit 40.000 Euro dotierte Auszeichnung wird sektionsübergreifend vom Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb) gestiftet und an einen Dokumentarfilmbeitrag vergeben. Die dreiköpfige Jury besteht aus dem deutschen Filmemacher und -produzenten Gerd Kroske, der französisch-amerikanischen Filmemacherin und Kuratorin Marie Losier sowie der kanadischen Filmemacherin, Sängerin, Künstlerin und Aktivistin Alanis Obomsawin.[44]
2020 sind 21 Filme aus den Sektionen Wettbewerb (1 Film), Berlinale Special (3), Encounters (2), Panorama und Forum (je 6), Generation (1) sowie Perspektive Deutsches Kino (2) nominiert:[44]
Yi Zhi You Dao Hai Shui Bian Lan (Berlinale Special)
GWFF Preis Bester Erstlingsfilm
Die mit 50.000 Euro dotierte Auszeichnung wird seit 2006 sektionsübergreifend von der Gesellschaft zur Wahrnehmung von Film- und Fernsehrechten (GWFF) gestiftet und an einen Debütfilm vergeben. Die dreiköpfige Jury besteht aus dem serbischen Regisseur und Autor Ognjen Glavonić, der ägyptischen Regisseurin, Produzentin und Filmkollektiv-Gründerin Hala Lotfy sowie dem spanischen Programmer und Filmwissenschaftler Gonzalo de Pedro Amatria.[45]
2020 sind 21 Filme aus den Sektionen Encounters (3 Filme), Panorama (8), Forum (4), Generation (4) und der Perspektive Deutsches Kino (2) nominiert:[45]
vollständige Liste
Chico ventana también quisiera tener un submarino (Forum)