Castorf wurde als Sohn eines Eisenwarenhändlers in Ost-Berlin geboren.[2] Er absolvierte von 1969 bis 1970 eine Ausbildung zum Facharbeiter bei der Deutschen Reichsbahn.[3] Nach dem Wehrdienst bei einem Pionierregiment der NVA studierte er von 1971 bis 1976 Theaterwissenschaft bei Ernst Schumacher, Rudolf Münz und Joachim Fiebach an der Humboldt-Universität zu Berlin.[4] Das Thema seiner Diplomarbeit lautete: „Grundlinien der ‚Entwicklung‘ der weltanschaulich-ideologischen und künstlerisch-ästhetischen Positionen Ionescos zur Wirklichkeit“ und wurde mit der Note „sehr gut“ bewertet.[4]
Bereits vor der Wende durfte er 1989 an westdeutschen Bühnen, unter anderem am Bayerischen Staatsschauspiel in München (Miss Sara Sampson von Gotthold Ephraim Lessing) und am Schauspiel Köln (Hamlet von William Shakespeare), inszenieren.[7] 1990 wurde er Hausregisseur am Deutschen Theater Berlin.[5] Seine dortige Inszenierung von Ibsens John Gabriel Borkman erhielt 1991 eine Einladung zum Berliner Theatertreffen.[8] Kontroversen löste Castorf mit seiner Basler Version von Wilhelm Tell (Friedrich Schiller) zum Schweizer 700-Jahr-Nationaljubiläum aus, in der er mit dem Selbstverständnis der Schweiz abrechnete und Parallelen zwischen der Schweiz und der DDR zog.[3][9] Ab 1992 wirkte Castorf als Intendant der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte; er verlängerte seinen Vertrag zuletzt 2012 bis zum Jahr 2016.[3][5] Das Haus erhielt 1993 gleich im ersten Jahr seiner Intendanz den von der Zeitschrift Theater heute ausgelobten Titel als „Theater des Jahres“.[3] Seine Volksbühnen-Laufbahn beendete Castorf zum Ende der Spielzeit 2016/2017, unter anderem mit einer sechs- bis achtstündigen Faust-Inszenierung. Als letzte Castorf-Inszenierung im Haus stand am 1. Juli 2017 das Stück Baumeister Solness von Henrik Ibsen auf dem Spielplan. Castorfs Nachfolger war der vom Berliner Senat berufene belgische Kurator und Museumsmanager Chris Dercon, vormals Direktor der Londoner Tate Modern, dessen Pläne bezüglich der künftigen künstlerischen Ausrichtung des Hauses jedoch von vielen Volksbühnen-Angehörigen abgelehnt wurden und der im Frühjahr 2018 zurücktrat.[10]
Im Jahr 2004 war Castorf neben seiner Tätigkeit als Intendant an der Berliner Volksbühne auch kurzzeitig künstlerischer Leiter der RuhrfestspieleRecklinghausen, als der er jedoch bereits einen Monat nach der Eröffnungspremiere von Gier nach Gold (Frank Norris) aufgrund eines erheblichen Einbruchs der Zuschauerzahlen vom Aufsichtsrat vorzeitig entlassen wurde.[13] Sein Scheitern wurde im Feuilleton breit diskutiert. Ein Rechtsstreit, den Castorf nach seiner Entlassung gegen die Ruhrfestspiele anstrengte, wurde Anfang 2005 nach einer Schlichtung beigelegt; es wurden zwei Kooperationen zwischen der Volksbühne und dem Festival vereinbart, und die Träger der Ruhrfestspiele, der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Stadt Recklinghausen, gestanden Castorf Fortzahlung eines Teils des Gehalts zu.[14] 2013 inszenierte er zum 200. Geburtstag Richard Wagners bei den 102. Bayreuther Festspielen den Ring des Nibelungen (Premiere: 26. bis 31. Juli; musikalische Leitung: Kirill Petrenko).
Im April 2020 erregte Castorf Aufsehen mit einem Online-Interview im Spiegel im Zusammenhang mit Maßnahmen während der COVID-19-Pandemie. Die Überschrift lautete: „Ich möchte mir von Frau Merkel nicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss“. Einige seiner Äußerungen, etwa die Bildunterschrift „Ich stelle mit Erschrecken fest, dass ich plötzlich sogar Trump mag“, wurden von Medien kritisiert.[15][16]
Castorfs Inszenierungen können dem zugerechnet werden, was seit einigen Jahren, sowohl in der Theaterwissenschaft als auch im Feuilleton, als postdramatisches Theater bezeichnet wird. So liegt seinen Inszenierungen und seiner Arbeitsweise in der Regel eine Haltung zugrunde, die sich wesentlich vom „normalen“ Arbeitsprozess unterscheidet. Castorf gebraucht eine literarische Vorlage zumeist, um durch biographische Details, Verfremdungsmittel wie Unsinn, Slapstick, Derbheiten eine eigenartige, „private“ Sicht auf das Treiben seiner Schauspieler auf der Bühne zu erzeugen, was Castorf regelmäßig den Vorwurf einbrachte, ein „Stückezertrümmerer“ zu sein und konservative Theatergänger auf die Barrikaden rief.
Ein Hauptmittel hierzu spielt seit einigen Jahren der intensive, experimentelle Gebrauch von Videokameras und Leinwänden, die eine eigenartige Wahrnehmungsperspektive ermöglichen.
Trotz aller Kritik, die von verächtlicher Polemik bis zur intellektuellen Auseinandersetzung reicht, genießt die Berliner Volksbühne unter Castorfs Leitung seit Jahren so etwas wie Kultstatus, insbesondere unter jüngeren Leuten, die den Theaterbesuch regelmäßig als „Party-Ersatz“ wahrnehmen. Darüber hinaus darf Castorfs Theaterarbeit als ernstzunehmende und richtungsweisende Experimentalästhetik gelten, die seit Beginn seiner Intendanz im Jahr 1992 bundesweit für neue Tendenzen ausschlaggebend gewesen ist, so etwa in der Frage nach der Ästhetik eines politischen Theaters.
In diesem Zusammenhang sorgte eine Äußerung Castorfs für einen Skandal, nach der er sich nach Stahlgewittern sehne, worunter nichts anderes gemeint war, als dass Emotionalität, unmoralische Aggressionen und die Intensität physischer Erfahrungen zu seinem Programm und seiner „Sehnsucht“ gehörten, was die westdeutsche Presse allgemein als „faschistoides Gedenke“ verurteilte und Castorf in einem Atemzug mit dem Regisseur Einar Schleef erwähnte.
Es geht Castorf laut eigener Aussage darum, einen Zustand von „einmaliger Realität“ auf der Bühne herstellen zu können, sodass die Probleme, Schicksale und Zustände der Figuren auch immer als Zustände, Schicksale und Probleme der Schauspieler begriffen werden und so auf menschlich greifbare Weise ihre Wirkung zeigen. Das bedeutet nicht, dass die Schauspieler dieselben Sorgen tragen, aber sie müssen sie „lebendig“ vermitteln können. Einfühlung oder verfremdendes Spiel wie bei Stanislawski oder Brecht interessieren Castorf nicht; er glaubt nicht an die Möglichkeit einer mimetischen Wiedergabe von Weltzuständen auf der Bühne und will kein „als-ob-Theater“ inszenieren. Stattdessen suchen seine Schauspieler durch physische Höchstanstrenungen diesen Zustand zu erreichen, so dass sich der „Sinn“ von selbst, in der wahrnehmenden Haltung des Zuschauers, einstellt.
Den Schauspielern wird hierfür bereits auf Proben die Möglichkeit gegeben, sich so weit als möglich auf experimentelle Weise mit den Vorgaben auseinanderzusetzen, um so spontane Spielzustände und Momente der „Echtheit“ ausprobieren zu können. Insofern unterscheidet sich Castorfs Probenarbeit deutlich von konventionellen Probenprozessen, die von einem leitenden Regisseur kontrolliert werden. Gleichwohl behält sich Castorf ausdrücklich das Recht auf Zustimmung oder Ablehnung von Einfällen, Ideen, Anreicherungen oder Spielweisen vor.
Die „Komplexität der Welt“ wird auf der schriftlichen Grundlage von Dramen oder seit einigen Jahren auch Romanen der Weltliteratur thematisiert. Autoren wie Dostojewski, Bulgakow, Tennessee Williams, Pitigrilli aber auch Heiner Müller oder Bertolt Brecht liefern den Stoff für Castorfs Inszenierungen. Die Texte liefern jedoch lediglich Versatzstücke und werden nach persönlichen Vorlieben zensiert, gekürzt, größtenteils durch Assoziationsmaterial, Filmzitate, fremde Dramen, politische Reden oder Manifeste, philosophische Texte oder Songs ergänzt und verfremdet. Eine komplexe gesellschaftliche oder anthropologische Dimension eines Romantextes etwa wird durch entsprechende Inszenierungsmittel auf eine „menschlich-nahe“ Ebene reduziert, die erzählbar und verständlich ist und so implizit die große Idee, etwa Politik, auf „menschliche“ Weise vermittelt.
Ensemble
Künstler, mit denen Castorf regelmäßig arbeitet, beziehungsweise bereits gearbeitet hat, sind u. a.:
[Quellen: Die Liste der Inszenierungen bis 1995 folgt, soweit nicht anders angegeben, dem Regieverzeichnis bei Jürgen Balitzki: Castorf, der Eisenhändler. Theater zwischen Kartoffelsalat und Stahlgewitter. 1995, S. 234–237; danach bis einschließlich 2012 basierend auf Presseberichten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung („Schauspielpremieren“), ergänzt um Angaben aus dem Munzinger-Archiv sowie Besprechungen von nachtkritik.de (ab 2007)]
1994: Pension Schöller/Die Schlacht' nach Carl Lauf bzw. Wilhelm Jacobi / Heiner Müller, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; Die Sache Danton von Stanislawa Przybyszewska, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin
1995: Raststätte oder Sie machen’s alle von Elfriede Jelinek, Deutsches Schauspielhaus Hamburg; Die Nibelungen I – Born Bad nach Friedrich Hebbel, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; Die Nibelungen II – Born Bad nach Friedrich Hebbel, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; Pelmeni von Wladimir Georgijewitsch Sorokin, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Prater), Berlin; Gescheiterte Vorstellung von Daniil Charms, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Prater), Berlin
1999: Richard II. von William Shakespeare, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Prater in der Kastanienallee), Berlin; Dämonen von Fjodor Dostojewski, Wiener Festwochen (Burgtheater Wien); Die Tochter der Luft. Nach Calderón von Hans Magnus Enzensberger, Burgtheater Wien; Heinrich VI. von William Shakespeare, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz (Prater), Berlin; Caligula von Albert Camus, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin.
2003: Trauer muss Elektra tragen von Eugene O’Neill, Schauspielhaus Zürich; Forever Young (Süßer Vogel Jugend), Wiener Festwochen / Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin
2004: Kokain nach Pitigrilli (Uraufführung), Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; Gier nach Gold von Frank Castorf nach Frank Norris, Ruhrfestspiele Recklinghausen / Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; Brüder zur Sonne zur Freiheit. Ein Arbeiterliederabend ohne Verdi von Frank Castorf und Franz Wittenbrink (Regie mit Franz Wittenbrink) (Uraufführung), Ruhrfestspielhaus Recklinghausen; Meine Schneekönigin von Frank Castorf nach Hans Christian Andersen (Uraufführung), Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin
2007: Norden von Louis-Ferdinand Céline, Wiener Festwochen (MuseumsQuartier, Halle E); Der Jasager/Der Neinsager nach Bertolt Brecht und Kurt Weill, Berlin; Emil und die Detektive nach Erich Kästner (2 Fassungen: ab 9 und ab 17 Jahren), Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin
2008: Fuck off, Amerika nach Motiven von Eduard Limonow, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; Die Maßnahme/Mauser nach Bertolt Brecht bzw. Heiner Müller, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; FaustFaustFaust nach Johann Wolfgang von Goethe und anderen, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; Hunde – Reichtum ist die Kotze des Glücks nach „Die Spürhunde“ von Sophokles, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; Kean ou Désordre et Génie par Alexandre Dumas et Die Hamletmaschine par Heiner Müller, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin; Jakob Lenz von Wolfgang Rihm (Oper), Wiener Festwochen (MuseumsQuartier)
2019: Galileo Galilei. Das Theater und die Pest. Von und nach Bertolt Brecht, Berliner Ensemble; Justiz nach Friedrich Dürrenmatt, Schauspielhaus Zürich
2020: Aus dem bürgerlichen Heldenleben nach Carl Sternheim, Schauspiel Köln, Molto Agitato an der Hamburger Staatsoper
2021: Fabian oder der Gang vor die Hunde nach Erich Kästner, Berliner Ensemble, Zdenek Adamec nach Peter Handke am Burgtheater Wien, Lärm Blindes Sehen nach Elfriede Jelinek am Burgtheater Wien, Der Geheimagent von Joseph Conrad am Schauspielhaus Hamburg
2022: Moliere, Schauspiel Köln, Schwarzes Meer von Irina Kastrinidis, Landestheater Niederösterreich, Wallenstein nach Schiller am Staatsschauspiel Dresden
ders.: Die Erotik des Verrats. Gespräche mit Frank Castorf. Erweiterte und durchgesehene Neuauflage. Alexander Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3-89581-356-6.
Robin Detje: Castorf: Provokation aus Prinzip. 2002.
Thomas Irmer, Harald Müller (Hrsg.): Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf. Theater der Zeit, Berlin 2003, ISBN 3-934344-21-6.
Carl Hegemann (Hrsg.): Frank Castorf: Forever Young. Alexander Verlag, Berlin 2003.
ders.: Endstation. Sehnsucht. Programmheft zur Inszenierung „Endstation Sehnsucht“ von Frank Castorf. Alexander Verlag, Berlin 2000.
ders.: Glück ohne Ende. Programmheft zur Inszenierung „Elementarteilchen“ von Frank Castorf. Alexander Verlag, Berlin 2000.
ders.: Erniedrigung geniessen. Programmheft zur Inszenierung „Erniedrigte und Beleidigte“ von Frank Castorf. Alexander Verlag, Berlin 2001.
ders.: Einbruch der Realität. Mit einem Text von Frank Castorf. Alexander Verlag, Berlin 2002.
ders.: Das Schwindelerregende. Zu Frank Castorfs Inszenierung „Kokain“. Alexander Verlag, Berlin 2004.
Jutta Wangemann: Prärie. Ein Benutzerhandbuch. Berlin 2006, ISBN 3-89581-156-4.
Tobias Hockenbrink: Karneval statt Klassenkampf. Das Politische in Frank Castorfs Theater. Tectum Verlag, Marburg 2008, ISBN 3-8288-9819-X.
↑ abcTill Briegleb: Frank Castorf. Goethe-Institut, abgerufen am 3. November 2012.
↑Balitzki: Castorf, der Eisenhändler. Theater zwischen Kartoffelsalat und Stahlgewitter. 1995, S. 227.
↑Andreas Rossmann: Im Bannkreis des Schwindels. „Hamlet“ aus der Sicht des DDR-Regisseur Frank Castorf beim Schauspiel Köln. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 27. April 1989, S. 33; Premieren im Oktober. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 30. September 1989, S. 29.
↑Sechse äffen. Auswahl zum Berliner Theatertreffen 1991. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 2. März 1991, S. 25.
↑Barbara Villiger Heilig und Tobi Müller: Die erträgliche Schwierigkeit des Seins. Interview mit Frank Castorf. In: Neue Zürcher Zeitung. 24. März 2001, S. 85.